Leonardo da Vincis Neugier war unstillbar

Im Frühjahr findet man den „Doldigen Milchstern“ häufig auf Wiesen, Ödland und selbst in Parks. Volker Reinhardt weiß: „Leonard da Vinci musste Mailand, wo er von 1482 bis 1499 lebte, also nicht einmal verlassen, um die attraktive Pflanze mit den oben schneeweißen, unten weißgrünen Blütenblättern in sein Notizbuch zu zeichnen.“ Bei einem Spaziergang in seinem Weinberg, einer verwilderten Gartenanlage oder in einem Zierwäldchen stieß er auch auf das „Gelbe Windröschen“. Dieses scheint auf dem gleichen Zeichenblatt zu beiden Seiten des Milchsterns zu wachsen. Auch die „Garten-Wolfsmilch“, die er unten rechts auf das Blatt zeichnete, konnte er bei dieser Gelegenheit pflücken. Ebenso die beiden anderen Wolfsmilcharten, von denen auf dem Blatt nur die oberen Blütenstände festgehalten sind. Volker Reinhardt ist Professor für Geschichte der Neuzeit an der Universität Fribourg. Er gehört international zu den führenden Italien-Historikern.

Leonardo da Vinci zeichnete Pflanzen mit unübertroffenen Präzision

Volker Reinhardt stellt fest: „Die vollständig wiedergegebenen Pflanzen sind mit der Präzision eines botanischen Lehrbuchs gezeichnet, so dass die Bestimmung bis heute leichtfällt.“ Warum Leonardo da Vinci mit seiner unstillbaren Neugier für alle Erscheinungen der Natur gerade diese Blumen zusammenfügte, lässt sich nur vermuten. Vieles spricht dafür, dass es ihm um eine Studie über Verwandtschaft und Variation ging. Im Falle der drei unteren Zeichnungen hat er auch nach DNA-Kriterien des 21. Jahrhunderts Recht.

Euphorbia bildet eine eigene Gattung innerhalb der Euphorbiaceae, der Familie der Wolfsmilchgewächse, die entwicklungsgeschichtlich auf einer Stufe stehen. Man muss allerdings kein Charles Darwin sein, um diese Zusammenhänge zu erkennen. Es genügte, genau zu beobachten, und das konnte Leonardo da Vinci wie kein anderer Mensch seiner Zeit. Milchstern und Windröschen ähneln sich ebenfalls auf den ersten Blick. Doch bei näherem Hinsehen unterscheiden sie sich durch eine Reihe bedeutsamer Merkmale, zum Beispiel durch die Zahl der Staubblätter und der übrigen „Fortpflanzungsorgane“.

Bei seinen Zeichnungen ging es Leonardo da Vinci um Studien des Lebens

Diese sind beim Windröschen viel zahlreicher als beim Milchstern. Und auch die Blätter heben sich deutlich voneinander ab, vielfach geteilt bei der einen, lanzettlich schlangenartig bei der anderen Pflanze. Nach heutigen biologischen Erkenntnissen liegen zwischen dem „archaischen“ Windröschen und dem „modernen“ Milchstern Jahrmillionen der Evolution, die sich zu einfacheren, „ökonomischeren“ Formen hin entwickelt. Bei seinen Zeichnungen ging es Leonardo da Vinci um Studien des Lebens und des Lebendigen in allen seinen Erscheinungsformen.

Und sein Milchstern lebt. Volker Reinhard beschreibt ihn detailverliebt: „Die schmalen Blätter schwingen wie Saugarme, ja, es hat geradezu den Anschein, als ob Leonardo sie in verschiedenen Stadien der Bewegung festgehalten habe, so wie bei seinen gleichzeitig betriebenen Studien zum strömenden Wasser oder zum Vogelflug.“ Neben der bereits blühenden Dolde drängen weitere Knospenrispen aus dem Halbschatten der schützenden Hüllblätter ans Licht. Quelle: „Die Macht der Schönheit“ von Volker Reinhardt

Von Hans Klumbies