Zarathustra singt das Mitternachtslied

Friedrich Nietzsches „Mitternachtslied“ aus „Also sprach Zarathustra“ beginnt mit einer eindringlichen Anrufung, die ein Rätsel darstellt: Weder weiß man, wer genau hier spricht, noch zu wem eigentlich gesprochen wird. „Oh Mensch! Gieb Acht!“ Nach dem Kapitel „Das andere Tanzlied“ hebt dieser Gesang an – unmittelbar, ohne Einleitung oder Vorwarnung, ohne epische Szenerie oder Erläuterung. Konrad Paul Liessmann fragt: „Ist es Zarathustra selbst, der dieses Lied für sich intoniert? Ist es das allegorisierte Leben, das Zarathustra diese Worte als größtes Geheimnis ins Ohr flüstert? Sind es die Schläge der Mitternachtsglocke, die diese Verse mit sich hinaustragen in die Welt?“ Konrad Paul Liessmann ist Professor für Philosophie an der Universität Wien. Zudem arbeitet er als Essayist, Literaturkritiker und Kulturpublizist. Im Zsolnay-Verlag gibt er die Reihe „Philosophicum Lech“ heraus.

„Oh!“ besitzt eine beeindruckende Bedeutungsvielfalt

„Mensch“ ist eine unspezifische Kategorie, ein Einzelner, der unmittelbar angesprochen werden soll, kann damit ebenso gemeint sein wie die Menschheit. Ja es kann sich dabei sogar um das Menschsein schlechthin handeln. Bei der Wiederaufnahme des Liedes im vierten Teil des „Zarathustra“ arrangiert Friedrich Nietzsche eine Szene. Diese lässt den Schluss zu, dass Zarathustra das „Mitternachtslied“ für seine Weggefährten singt und es ihnen erläutert.

Seine Anhänger wären dann auch die Adressaten dieses ungeheuren „Oh Mensch“. Aber Konrad Paul Liessmann traut Friedrich Nietzsche nicht, zumal an der Stelle, an der dieses Lied zum ersten Mal eingeläutet wird, von diesen seltsamen Anhängern noch gar keine Rede sein kann. „Oh Mensch!“ Ach, allein dieses „Oh!“ In der deutschen Sprache können Interjektionen, so klein und knapp sie sein mögen, eine beeindruckende Bedeutungsvielfalt besitzen. Eines der berühmtesten Theaterstücke von Heinrich von Kleist, „Amphitryon, endet mit einem legendären „Ach!“.

Friedrich Nietzsche selbst hat dieses „Oh“ geliebt

Alkmene fehlen alle anderen Worte, nachdem ihr offenbar wurde, welche Betrugsgeschichte mit ihr inszeniert worden war. Sie bleibt emotional völlig verwirrt zurück. Was alles kann in solch einem „Ach“ stecken: Verwunderung, Verletzung, Schmerz, Enttäuschung, Verachtung, Staunen, Wut, Freude, Resignation. Und was alles kann sich in einem „Oh!“ ausdrücken. Friedrich Nietzsche selbst hat dieses „Oh“ geliebt. Es taucht immer wieder in seinen Texten und Briefen auf, in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen.

Diese kleine Interjektion umfasst ein verblüffend breites Bedeutungsspektrum. Sie kann Ausdruck einer Überraschung, einer Verwunderung, einer Anerkennung, aber auch Bekundung einer Ablehnung oder harschen Zurückweisung sein. Zwischen einem „Oh, das finde ich schön!“ und einem „Oh, nur das nicht!“ liegen Welten. Friedrich Nietzsche, der Altphilologe, kannte diesen pejorativen Unterton dieses Vokals auch aus der lateinischen Rhetorik: „O tempora, o mores“. Mit dieser Floskel beklagte Cicero den Verfall der Zeiten und Sitten. Quelle: „Alle Lust will Ewigkeit“ von Konrad Paul Liessmann

Von Hans Klumbies