Ulrich Greiner: „Wir leben in einer Zeit des Schamverlustes“

Wann und warum sich Menschen schämen, ist davon abhängig, in welcher Kultur und in welcher Epoche sie leben. Wie sich mit den Normvorstellungen für das Gebotene und Erlaubte auch das Schamempfinden verändert hat, zeigt Ulrich Greiner in seinem Buch „Schamverlust. Vom Wandel der Gefühlskultur“ anhand zahlreicher literarischer Werke von Heinrich von Kleist bis Botho Strauß. Denn die Scham ist eine der stärksten Antriebskräfte von Literatur. Wenn sich jemand schämt, begegnet er sich selbst. Und eine Selbstbegegnung ist eine der Voraussetzungen für Literatur. Ulrich Greiner behauptet: „Wir leben in einer Zeit des Schamverlustes und der Peinlichkeitsfurcht.“ Ulrich Greiner war zehn Jahre lang der Feuilletonchef der ZEIT. Als Gastprofessor lehrte er in Hamburg, Essen, Göttingen und St. Louis. Außerdem ist er Präsident der Freien Akademie der Künste in Hamburg.

Die Fähigkeit zur Scham macht den Menschen zum moralischen Subjekt

Ulrich Greiner beobachtet und erläutert den Wandel der Gefühlskultur im alltäglichen Leben und untermauert seine Gedanken mit den Erkenntnissen bedeutender Philosophen und Soziologen. Das Gefühl der Scham oder der Peinlichkeit hat wahrscheinlich schon jeder einmal in seinem Leben erlebt. Oftmals bleibt man aber mit diesem Gefühl allein, weil es die meisten Menschen nicht wagen, davon zu erzählen. Es eignet sich auf Anhieb auch nicht für eine beiläufige Mitteilung. Es ist ganz im Gegenteil ein zunächst nichtöffentliches, ein privates Gefühl unangenehmen Charakters.

Fast jeder möchte das Gefühl der Scham oder Peinlichkeit möglichst schnell vergessen. Man schämt sich seiner Scham. Solange ein Mensch daran denkt, bleibt das Peinliche peinlich. Ulrich Greiner erklärt: „Wer sich überhaupt nicht zu schämen vermag, ist kein Mensch in vollem Sinn – erst die Fähigkeit zur Scham macht ihn zum moralischen Subjekt.“ Für den Autor ist vor allem die Literatur ein hervorragendes Archiv, das die Wandlungen der Gefühlskultur sammelt und aufbewahrt. Der amerikanische Schriftsteller Jonathan Franzen vertritt sogar die Auffassung, dass jeder gute Schriftsteller Scham empfinde.

Gegenüber der Scham ist die Peinlichkeit das schwächere Gefühl

Ulrich Greiner vertritt die Ansicht, dass man am Wandel der Gefühlskultur sogar den Wandel der Zeit erkennen kann. Die zentrale These des Buchs „Schamverlust“ lautet, dass an die Stelle der allgemeinen Schuldkultur und der noch älteren Schamkultur eine neue Kultur getreten ist: die Kultur der Peinlichkeit. Scham ist kein Willensakt, sondern ein plötzliches und heftiges Ereignis, dass sich der menschlichen Herrschaft entzieht und tief in die Seele eindringt. Das äußert sich beispielsweise im Erröten. Für den genialen Naturforscher Charles Darwin war das Erröten die eigentümlichste und menschlichste aller Ausdrucksformen.“

Ulrich Greiner ist fest davon überzeugt, dass Scham nicht eine anerzogene Unart ist, die man sich abgewöhnen sollte, sondern die Bedingung für Moral schlechterdings. Die Fähigkeit, Scham empfinden zu können, ist seiner Meinung nach eine menschliche Tugend. Schamgefühle haben vielfältige Ursachen, je nach Mensch und Situation. Verglichen mit der Scham ist die Peinlichkeit das schwächere Gefühl, und ihr Anlass ist in der Regel geringfügiger. Peinlichkeit ist der Verstoß gegen eine Verhaltensregel, der in einem sozialen Zusammenhang passiert und von anderen Menschen beobachtet wird.

Schamverlust

Vom Wandel der Gefühlskultur

Ulrich Greiner

Verlag: Rowohlt

Gebundene Ausgabe: 349 Seiten, 2. Auflage: 2014

ISBN:, 22,95 Euro

Von Hans Klumbies

 

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