Die Faszination des Bösen ist ungebrochen

Man redet wieder über „das Böse“. Rüdiger Safranski vermutet: „Vielleicht deshalb, weil man bemerkt hat, dass unsere Begriffe notorisch harmloser sind als die Wirklichkeit.“ Das ist übrigens eine alte Erfahrung. Die Karriere des griechischen Logos begann als Strategie der Beruhigung, als Neutralisierung des Mythos. Denn für diesen war der Grund der Welt ein Abgrund, ein wahres Inferno aus Gewalt, Inzest, Mord, Verfeindung. Der Kosmos erscheint in antik-griechischer Sicht als Ergebnis eines endlich triumphierenden Friedensschlusses zwischen den Göttern. So ist der Mythos auch eine Erinnerung daran, welchem Grauen die Zivilisation abgerungen ist. Am Anfang gebar, von Eros geschwängert, die „breitbrüstige“ Gaia, die Erde den Uranos, den Himmel. Rüdiger Safranski arbeitet seit 1986 als freier Autor. Sein Werk wurde in 26 Sprachen übersetzt und mit vielen Preisen ausgezeichnet.

Kronos kastriert seinen Vater

Der bedeckte sie ganz und begattete sie dann: der erste Inzest. Daraus geht die zweite Göttergeneration hervor. Das sind die Titanen, unter ihnen Okeanos und Kronos, und die Titaniden, einäugige Zyklopen und einige Hundertarmige. Uranos aber hasst diese Kinder, die er mit seiner Mutter gezeugt hat. Er stopft sie zurück in ihren Leib. Gaia will sie nicht bei sich behalten und spricht zu ihnen: „Ihr Söhne, die ihr aus mir und einem Zornigen hervorgegangen seid …, wir werden den verbrecherischen Frevel eines Vaters rächen.“

Gaia fährt fort: „Auch wenn er euer eigener Vater ist, denn als erster hat er schändliche Werke geplant.“ Kronos, einer der Söhne, übernimmt die Aufgabe des Rächers. Mit einer Sichel kastriert er seinen Vater. Er wirft die Geschlechtsteile ins Meer. Aus dem Schaum, der sich bildet, entsteht Aphrodite. Kronos tritt nun an die Stelle seines Vaters. Mit seiner Schwester zeugt er die dritte Göttergeneration, unter ihnen Demeter, Hades, Poseidon und schließlich Zeus.

Zeus etabliert ein System der Gewaltenteilung

Rüdiger Safranski weiß: „Kronos jedoch hat von seinem Vater erfahren, dass er eines Tages unter den Schlägen seines eigenen Sohnes umkommen werde. Darum erschlägt Kronos seine Kinder, sobald sie zur Welt kommen.“ Nur Zeus bleibt verschont, denn seine Mutter hält ihn auf Kreta in einer unzugänglichen Grotte versteckt. Der zurückgekehrte Zeus zwingt seinen Vater, die aufgefressenen Geschwister wieder auszuspeien. Es entbrennt ein furchtbarer Kampf zwischen Zeus und den anderen Göttern und Titanen.

Zeus, der Sieger in dieser Titanomachie, etabliert klugerweise ein System der Gewaltenteilung. Rüdiger Safranski erläutert: „Das Meer gehört Poseidon, die Unterwelt Hades, und er selbst regiert im Himmel, als der Erste unter den Gleichen. Nun hat Zeus niemanden mehr zu fürchten – außer die Göttin der Nacht, eine Titanide aus dem Uranos-Geschlecht.“ Auch Zeus hütet sich, sie zu reizen, und holt bisweilen Rat von ihr ein. Die Olympier wissen, dass sie zur hellen Seite der Welt gehören und nicht mehr die Tiefe der Nacht erfüllen. Quelle: „Das Böse oder das Drama der Freiheit“ von Rüdiger Safranski in der „Geist im Gebirge“

Von Hans Klumbies