Die Pflicht ist das Recht der anderen auf uns

Der Begriff der „Pflicht“, so angestaubt er vielen Menschen zu erscheinen vermag, ist auch im 21. Jahrhundert nicht von gestern. Es gibt immer noch gute Gründe, warum er sich nicht auf die Pflicht von Steuern, Zahlungs- und Kreditverpflichtungen oder die versteckte Drohung durch Strafgesetze reduzieren lässt. Richard David Precht erläutert: „Das Wort „Pflicht“ in seinem alt- und mittelhochdeutschen Ursprung für Fürsorge und Obhut. Die Teilnahme und der Dienst an der Gemeinschaft bezeichnet ein hohes Gut der Gesellschaft.“ Die Pflicht ist, wie Friedrich Nietzsche sagt, „das Recht der anderen auf uns“. Pflichten zu haben und anderen verpflichtet zu sein, ist kein Relikt aus einer vormodernen Zeit. Der Philosoph, Publizist und Autor Richard David Precht einer der profiliertesten Intellektuellen im deutschsprachigen Raum.

Jeder sollte auch die Rechte der anderen anerkennen

Und es ist mitnichten ein persönliches und gesellschaftliches Übel, nicht nur eigene Rechte einzufordern, sondern auch das Recht der anderen anzuerkennen, dass man sich ihnen gegenüber angemessen verhält. Dabei sind Pflichten keine Dinge, die man vor sich herträgt. Sondern man trägt sie in sich als Teil einer Haltung. Nämlich einer Haltung zu anderen Menschen und manchmal einer Institution, die Pflichten auferlegt, vor allem aber einer Haltung gegenüber sich selbst.

Im Hinblick auf das Verhältnis zur Pflicht erscheint die Corona-Krise wie ein Brennglas. Sie erzeugt ein aufrechtes virtuelles Bild, welche Haltungen Menschen in Deutschland heute im Angesicht von Unsicherheit und Ungewissheit einnehmen. Zurückgeworfen auf die biologische Verletzbarkeit und auf den medizinischen Schicksalszusammenhang, in dem man mit anderen Menschen steht, wird das eigene Verhalten existenziell. Jede Haltung, die man im Umgang mit dem Virus einnimmt, ist damit keine reine Privatangelegenheit mehr.

Für viele Menschen sind Ausnahmesituationen völlig neu

Sie ist Teil nicht nur einer Ethik des Lebens, sondern auch des Zusammenlebens. Und insofern eine Frage von Pflicht und Verpflichtung. Für die meisten Menschen in Deutschland, die den Zweiten Weltkrieg nicht mehr erlebt haben, ist diese Ausnahmesituation völlig neu. Die Gesellschaft hierzulande ist darauf konditioniert, Probleme durch Technik zu lösen. Deshalb nötigt sie ihren Bürgern gemeinhin keine kollektiven Verhaltensänderungen ab. Auch nicht in der Frage von Leben und Tod.

Einzig die Anschnallpflicht im Auto und das öffentliche Rauchverbot sind als Maßnahmen gesundheitlicher Erziehung noch schwach im Gedächtnis. So selbstverständlich inzwischen, dass der vormalige Aufschrei längst verhallt und kaum noch erinnert ist. Richard David Precht stellt fest: „Vor diesem Hintergrund wirken die staatlich verordneten Maßnahmen zu Verhaltensänderungen in der Covid-19-Krise auf manche Menschen geradezu brachial und verstörend.“ Angemessenen Anstand und abgemessenen Abstand zu wahren nötigt einem der liberal-demokratische Staat gemeinhin nicht ab. Er überlässt es in der Regel jedem Einzelnen, mehr oder weniger anständig zu sein. Quelle: „Von der Pflicht“ von Richard David Precht

Von Hans Klumbies