Die Evolution beruht auf Mutation und Selektion

Das am weitesten anerkannte Evolutionsmodell beruht auf zwei wichtigen Elementen: Mutation und Selektion. Eyal Winter erläutert: „Mutation sorgt dafür, dass in den Eigenschaften eines Organismus von Generation zu Generation willkürliche Veränderungen auftreten. Die Selektion verbreitet „günstige“ Mutationen in einer Population, wohingegen „ungünstige“ allmählich aussterben.“ Individuen mit guten Merkmalen haben höhere Überlebenschancen und sorgen für mehr Nachkommenschaft. In der Regel geht man davon aus, dass evolutionäre Kräfte die Eigenschaften einzelner Individuen – deren Gene – prägen, aber Mutation und Selektion beeinflussen auch die Entwicklung ganzer Gesellschaften. Gemeinschaften mit positiven Merkmalen – etwa sozialen Strukturen und Werten, die den Zusammenhalt stärken – haben höhere Überlebenschancen. Gruppierungen, denen diese Eigenschaften fehlen, werden beispielsweise häufiger im Kampf geschlagen und von Einzelnen verlassen. Eyal Winter ist Professor für Ökonomie und Leiter des Zentrums für Rationalität an der Hebräischen Universität von Jerusalem.

Ein Alter von 1000 Jahren ist möglich

Forscher in den Bereichen Biologie und Sozialwissenschaften verwenden vermehrt Modelle der Gruppenevolution, um soziale Strukturen bei Mensch und Tier zu erklären. Die beiden wichtigsten Evolutionsmodelle, die auf diesem Gebiet entwickelt wurden, sind „Gruppenselektion“ und „Sippenselektion“. Diese beiden Modelle unterscheiden sich wesentlich und liefern mitunter völlig entgegengesetzte Schlussfolgerungen. Eyal Winter nimmt als Beispiel die Frage, ob die Menschheit eines Tages eine Lebenserwartung von tausend Jahren erlangen wird. Nach dem Modell der „Sippenselektion“ ist dies durchaus möglich.

Die Mutation wird willkürliche Veränderungen hervorbringen, die den Menschen im Lauf der Zeit gegen nahezu jede bekannte Krankheit immun machen. Wer die lebensverlängernde Genveränderung nicht aufweist, stirbt aus, sodass nur Individuen mit einer tausendjährigen Lebensspanne übrig bleiben. Gemäß dem Modell der „Gruppenselektion“ ist eine derartige Entwicklung indes undenkbar. Gemeinschaften aus Menschen, die tausend Jahre leben, profitieren nicht mehr vom Generationenwandel und werden entwicklungsmäßig erstarren.

Was zählt als Individuum?

Sie leiden zudem unter ständigem Ressourcenmangel, da ihre Populationen zahlenmäßig explodieren. Dies führt zu Kriegen, in denen viel mehr Menschen ums Leben kommen als in den Gesellschaften wie den heutigen mit einer Lebenserwartung von nur achtzig Jahren. Kritiker halten es für grundlegend falsch, Gesellschaften oder Kollektive wie autonome Individuen zu betrachten. Aus ihrer Sicht können nur einzelne Lebewesen als Individuen angesehen werden, die dem Selektionsdruck unterliegen.

Für Eyal Winter ist dieser Ansatz zu rigide. Die Frage „was zählt als Individuum“ ist philosophischer Natur und nicht eindeutig zu beantworten. Eyal Winter denkt dabei an Beispiele wie etwa Ameisenkolonien oder Korallenriffe, bei denen alles andere als klar ist, was mit dem Begriff des „Einzelnen“ gemeint ist. In vielen Fällen kann es sinnvoller sein, eine ganze Ameisenkolonie als „Individuum“ zu studieren. Dieselbe Überlegung gilt für Korallen als Ganzes gegenüber ihren einzelnen Polypen. Quelle: „Kluge Gefühle“ von Eyal Winter

Von Hans Klumbies