Mythen prägten die griechische Tragödie

In der griechischen Tragödie spielte die Handlung in der mythologischen Vergangenheit, da man genau diese Vergangenheit am Ende überwand. Ágnes Heller ergänzt: „Bei Shakespeare spielte sich die Handlung hauptsächlich in der historischen Vergangenheit ab. Und nicht nur die aus der englischen Geschichte, sondern auch Hamlet, Macbeth oder König Lear – denn man kann die Geschichte nur hinter sich lassen, wenn man in ihr aufgeht. Die klassische französische Tragödie folgte beiden Vermächtnissen, ähnlich wie die Barockoper. Im griechischen Drama spielte der Chor immer eine entscheidende Rolle, nicht nur in Tragödien, sondern auch in Komödien des Aristophanes. Ab 1977 lehrte Ágnes Heller als Professorin für Soziologie in Melbourne. 1986 wurde sie Nachfolgerin von Hannah Arendt auf deren Lehrstuhl für Philosophie an der New School for Social Research in New York.

Das Sprech- und Gesangstheater spaltet sich

Mit der Renaissance spaltete sich die griechische Tragödie der Verbindung gesprochener Sprache der Dialoge und der Chorgesänge. Einerseits entwickelte sich das tragische Drama, andererseits das Musikdrama, genannt Opera seria – ernste Oper. Das tragische Drama blieb poetisch – in Versen geschrieben – und man führte es in gesprochener Sprache auf. Dennoch bewahrte die Tragödie lange Zeit etwas vom musikalischen Charakter. Man schrieb sie im Wesentlichen als Dichtung, sodass die Deklamation die traditionelle Art und Weise war, sie darzustellen.

Der Chor der Opera seria singt, wie in der antiken Tragödie, und der Gesang reflektiert die Handlungen der Helden. Er greift manchmal sogar in sie ein, gibt Ratschläge, formuliert philosophische Fragen und moralische Urteile. Ágnes Heller weiß: „Die Spaltung zwischen Sprech- und Gesangstheater spaltete manchmal sogar das Publikum.“ Sie führte auch häufig zur absoluten Dominanz der Musik, zur Verarmung der Texte in der Oper und, wie Richard Wagner es ausdrückte, zum Verlust des Dramas selbst.

In den antiken Tragödien prallen zwei Welten aufeinander

Die Haupthandlung in Tragödien findet in verbalen Konflikten statt, dem „Agon“. Bei Aischylos und Sophokles, manchmal auch bei Euripides, prallen zwei Werte, zwei Leidenschaften, zwei Welten aufeinander. Ágnes Heller stellt fest: „Es gibt Hunderte verschiedene moderne Interpretationen dieser Werte und der Leidenschaften, die sie manifestieren. Einige sehen in der Orestie den Konflikt zwischen Matriarchat und Patriarchat, wobei Letzteres durch die Stimme der Athene gewinnt, die nie Mutter war.“

Bei Georg Wilhelm Friedrich Hegel – Phänomenologie des Geistes – stellt „Antigone“ den Konflikt zwischen den Gesetzen der Götter und den Gesetzen des Staates dar. Man kann diese Tragödien frei interpretieren, aber man wird nie wissen können, was die Autoren wirklich im Sinn hatten. Und das ist nicht einmal wichtig. Doch es gibt etwas, dass man immer noch über die Absichten tragischer Autoren aus der griechischen Philosophie weiß. Man kann wenigstens ihre Gedanken überdenken und ihren Argumenten folgen. Quelle: „Vom Ende der Geschichte“ von Ágnes Heller

Von Hans Klumbies