Das christliche Abendland ist mehr Fiktion als Fakt

Wenn vom „Christlichen Abendland“ die Rede ist, muss laut Michael Wolffsohn zuerst einmal geistiger Müll beseitigt werden. Dasselbe gilt für die „Christlich-Jüdische“ Prägung des Abendlands. Das alles ist mehr Fiktion als Fakt. Das „Christlich-Jüdische“ Abendland ist eine reine Sprache der Wiedergutmachung, weil ein nicht nur deutsches Kollektiv sein schlechtes Gewissen dauerhaft beruhigen möchte. Der nicht selten geistlose Zeitgeist missversteht den Begriff des Christlichen oder Christlich-Jüdischen Abendlandes. Michael Wolffsohn stellt fest: „Da gibt es eher stammtischlerisch grölende Zeitgenossen. Sie wollen die „Islamisierung des Abendlandes“ verhindern. Dabei reden sie sich und anderen ein, das Abendland vor dem neuerlichen Untergang zu retten.“ Das ist der eine Meinungsstrom. Prof. Dr. Michael Wolffsohn war von 1981 bis 2012 Professor für Neuere Geschichte an der Universität der Bundeswehr in München.

Der Begriff „Abendland“ grenzt den Westen vom Osten ab

Im anderen Meinungslager findet man sogar Wissenschaftler. Sie behaupten: „Abendland“ sei ein Kampfbegriff der Islamophoben, also der Islamfeinde. Solche Wissenschaftler, meist Zeithistoriker, kennen im Wesentlichen nur ihr enges Fachgebiet. Sie sind das, was Michael Wolffsohn „Fachidioten“ nennt. Wer nur sein Minifach und nicht auch wenigstens die Grundzüge der Universalgeschichte kennt, sollte seiner Meinung nach besser schweigen. Denn nur ein Zeit und Raum übergreifender Blick gibt darüber Auskunft, wer oder was sich hinter dem Begriff „Abendland“ verbirgt.

Man verwendet den Begriff „Abendland“ seit dem 16. Jahrhundert als Eindeutschung des traditionellen und dem Volkswissen meist unbekannten Wortes Okzident. Ohne einen Orient kein Okzident, also ohne Morgenland kein Abendland. Von Anfang an diente sowohl der Begriff Okzident als auch „Abendland“ oft als polemische Abgrenzung des Westens vom Osten. Unter „Abendland“ verstand dessen Untergangsprophet Nummer eins, Oswald Spengler, vornehmlich die Großregion Europa-Nordamerika.

Der Ursprung des Abendlandes liegt in Griechenland

Sein Zeitgenosse Thomas Mann schüttete 1917/18 während seiner erzreaktionären Phase in den „Betrachtungen eines Unpolitischen“ voller Verachtung teutonischen Met aufs „römische Westeuropa“. Im heutigen Wikipedia zählt zum Abendland Westeuropa – vor allem Deutschland, England, Frankreich, die Iberische Halbinsel sowie Italien mit dessen Zentrum Rom. Doch gerade Rom ist ohne Athen, das antike Hellas, undenkbar. Wer zum Ursprung des Abendlands dringen will, kann über das Alte Griechenland nicht schweigen.

Zu fragen wäre, weshalb ausgerechnet die Benelux-Staaten, Schottland und Irland mit seinen Missionaren im frühmittelalterlichen Germanien, Österreich oder die Schweiz nicht zu diesen Abendländern gehören sollten. Und kann man Polen, Ungarn, Tschechien, die Slowakei, Slowenien und Kroatien, die skandinavischen Statten oder das Baltikum ausschließen? Wann und wo war besagter Anfang? Zunächst war er sonnengeografisch. Bekanntlich geht die Sonne im Osten früher auf und dann unter als im Westen. So einfach und wertfrei ist das. Wertfrei – und geografisch inkorrekt, denn Europa ist zwar für Vorderasien der Westen, aber westlicher als dieser Westen ist Amerika. Quelle: „Tacheles“ von Michael Wolffsohn

Von Hans Klumbies