Taten haben den Charakter der Offenbarung

Für Georg Wilhelm Friedrich Hegel sind das „Wer“, auf das man Bezug nimmt, um seine Handlungen zu rechtfertigen, jene Menschen, die gewohnheitsmäßig eine ähnliche Form des ethischen Lebens führen wie man selbst – eine kulturelle Hilfsvorrichtung, die sich im Lauf der Zeit entwickelt hat und einen sinnvollen Rahmen für die eigenen Aktivitäten darstellt. Matthew B. Crawford erklärt: „In einer solchen Welt haben Taten einen Offenbarungscharakter. Sie sprechen für sich, und zwar deswegen, weil sie sich an andere richten oder womöglich von anderen aufgenommen werden, die in derselben Kultur leben, in der die Taten mehr oder minder feststehende Bedeutungen haben.“ Das bedeutet jedoch, dass in Zeiten kultureller Veränderlichkeit und Ungewissheit, in denen keine Klarheit über die Regeln besteht, das soziale Verständnis für die individuelle Handlungsmacht auf eine grundlegende Schwierigkeit stößt. Matthew B. Crawford ist promovierter Philosoph und gelernter Motorradmechaniker.

Anerkennung ist nur in Verbundenheit mit anderen möglich

Man ist auf sich selbst zurückgeworfen und hat abgesehen vom eigenen Willen und der individuellen Urteilskraft nicht viel, an das man sich halten kann. Wenn ein Mensch Anerkennung will, dann will er als Individuum anerkannt werden. Dies scheint nur im Rahmen echter Verbundenheit mit anderen möglich zu sein, mit denen man gemeinsam in ein Gefüge von Normen – in eine kulturelle Vorrichtung – eigespannt ist, das verbindlich, aber zugleich so vielgestaltig ist, dass es individuelle Interpretationen zulässt.

Gekonnte Praktiken erfüllen diese Voraussetzung, und daher sind sie wichtig für die Bemühungen um Anerkennung als Individuen. Diese Bemühungen werden ziellos und gehen in die Irre, wenn man einer öffentlichen Doktrin des Individualismus unterworfen ist, die systematische die gemeinsamen Bezugsrahmen für die Sinngebung zerstört. Nur innerhalb solcher Bezugsrahmen kann man sich nicht nur andersartig, sondern als vortrefflich abheben. Alles andere führt zu einer Gleichförmigkeit anstatt zu einer echten Individualität.

Depressionen verursachen Minderwertigkeitsgefühle

Die Dequalifizierung des Alltagslebens, die in Ergebnis des aktuellen Wirtschaftssystems ist, hat Folgen die weit über die Wirtschaft hinausreichen. Sie ist nur ein Bruchteil umfassender Entwicklungen, welche die Optionen der Selbstwerdung und die verfügbaren menschlichen Möglichkeiten laufend umgestalten. In seinem Buch „Das erschöpfte Selbst“ liefert Alain Ehrenberg eine Kulturgeschichte der Depression. Er schreibt: „Sie ist eine Krankheit der Verantwortlichkeit, in der ein Gefühl der Minderwertigkeit vorherrscht.“

Alain Ehrenberg fährt fort: „Der Depressive ist nicht voll auf der Höhe, er ist erschöpft von der Anstrengung, er selbst werden zu müssen.“ In den sechziger Jahren fiel die persönliche Befreiung von der Autorität der Eltern, der Lehrer, der bürgerlichen Gesetze, der Gebärmutter, des BHs – mit sozialen Aufstiegschancen in einer expandierenden Wirtschaft zusammen. Diese Entwicklungen schienen eine Zeitlang die von Friedrich Nietzsche prophezeite Ankunft eines starken Menschen anzukündigen. Quelle: „Die Wiedergewinnung des Wirklichen“ von Matthew B. Crawford

Von Hans Klumbies