Kein Mensch ist frei von Abhängigkeiten

Jedes Individuum entsteht im Verlauf des Prozesses als Individuation. Keiner wird als Individuum geboren. Wenn jemand im Verlauf der Zeit zum Individuum wird, entgeht er oder sie in diesem Prozess nicht den grundlegenden Bedingungen der Abhängigkeit. Judith Butler erklärt: „Diese Bedingungen können nicht durch den bloßen Zeitablauf überwunden werden. Wir alle wurden, unabhängig von unseren späteren politischen Auffassungen, in einen Zustand radikaler Abhängigkeit hineingeboren.“ Wenn man als Erwachsener an diesen Zustand zurückdenkt, empfindet man vielleicht eine gewissen Herabsetzung oder Beunruhigung. Oder man will nichts mehr davon wissen. Manche sehen sich vielleicht wirklich durch die Tatsache gekränkt, dass sie sich einmal nicht selbst ernähren und nicht auf eigenen Füßen stehen konnten. Judith Butler ist Maxine Elliot Professor für Komparatistik und kritische Theorie an der University of California, Berkeley.

Jeder Mensch braucht Unterstützung durch die Welt

Nicht nur Menschen mit Behinderung brauchen Unterstützung zur Bewegung, zur Ernährung, ja zum Atmen. Alle diese grundlegenden menschlichen Fähigkeiten bedürfen in der einen oder anderen Weise der Unterstützung. Niemand bewegt sich, atmet oder findet Nahrung ohne Unterstützung durch die Welt. Diese bietet das Umfeld, in dem Bewegung, die Zubereitung und Verteilung von Nahrung zum Verzehr. Und stellt Umweltbedingungen bereit, unter denen die Menschen Luft von atembarer Qualität haben.

Judith Butler erläutert: „Abhängigkeit lässt sich teilweise definieren als das Sichverlassen auf soziale und materielle Strukturen und auf die Umwelt, denn auch letztere ermöglicht erst Leben.“ Ungeachtet der Probleme mit der Psychoanalyse kann man vielleicht sagen, dass man mit dem Erwachsenenwerden die Abhängigkeiten der Kindheit nicht überwindet. Und was ist Psychoanalyse schließlich, wenn nicht eine Theorie und Praxis, mit der man Probleme austrägt. Das heißt jedoch nicht, dass die Erwachsenen auf dieselbe Weise abhängig sind wie das Kind.

Erwachsene sehen ihr Selbstbild immer wieder infrage gestellt

Das heißt nur, dass die Erwachsenen zu Geschöpfen geworden sind, die ständig Selbstgenügsamkeit imaginieren. Dieses Selbstbild sehen sie im Lauf des Lebens immer wieder infrage gestellt. Das ist natürlich eine Position von Jacques Lacan, bekannt vor allem durch das „Spiegelstadium“. Man kann vielleicht sagen, dass der Gründungstriumph des liberalen Individualismus eine Art Spiegelstadium ist, und sich im Raum eines Imaginären von dieser Art bewegt.

Welche Unterstützung, welche Abhängigkeit muss man verleugnen, um zur Fantasievorstellung der Selbstgenügsamkeit zu gelangen, um die Geschichte mit zeitloser erwachsener Maskulinität beginnen lassen zu können? Diese Szene impliziert natürlich, dass Maskulinität mit phantasmatischer Selbstgenügsamkeit zusammenzufallen scheint. Dagegen identifiziert man Feminität mit der zu oft verleugneten, von ihr ausgehenden Unterstützung. Ein solches Bild und eine solche Geschichte hält die Menschen aber in einer wenig hilfreichen Ökonomie der Geschlechterbeziehungen fest. Quelle: „Die Macht der Gewaltlosigkeit“ von Judith Butler

Von Hans Klumbies