Narrationen stiften Sinn und Zusammenhang

Addition und Kumulation verdrängen Narrationen. Byung-Chul Han erläutert: „Die sich über weite Zeiträume erstreckende narrative Kontinuität zeichnet Geschichte und Erinnerung aus. Erst Narrationen stiften Sinn und Zusammenhang.“ Die digitale, das heißt numerische Ordnung ist ohne Geschichte und Erinnerung. So fragmentiert sie das Leben. Der Mensch als sich optimierendes, sich neu erfindendes Projekt erhebt sich über die „Geworfenheit“. Martin Heideggers Idee der „Faktizität“ besteht darin, dass die menschliche Existenz auf dem Unverfügbaren gründet. Heideggers „Sein“ ist ein anderer Name für das Unverfügbare. „Geworfenheit“ und „Faktizität“ gehören zur terranen Ordnung. Die digitale Ordnung defaktifiziert die menschliche Existenz. Sie akzeptiert keinen unverfügbaren Seinsgrund. Ihre Devise lautet: „Sein ist Information“. Das Sein ist somit ganz verfüg- und steuerbar. Die Bücher des Philosophen Byung-Chul Han wurden in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt.

Die digitale Utopie ist ein digitales Gefängnis

Martin Heideggers Ding verkörpert hingegen die Bedingtheit, die Faktizität der menschlichen Existenz. Das Ding ist die Chiffre für die terrane Ordnung. Dagegen ist die Infosphäre janusköpfig. Byung-Chul Han erklärt: „Sie verhilft uns zwar zu mehr Freiheit, aber sie setzt uns gleichzeitig einer zunehmenden Überwachung und Steuerung aus.“ Google präsentiert das vernetzte Smartphone der Zukunft als „elektronisches Orchester“. Sein Bewohner ist ein „Dirigent“.

Die Verfasser dieser digitalen Utopie beschreiben aber in Wirklichkeit ein „digitales Gefängnis“. Denn im Smartphone ist man kein digitaler Dirigent. Vielmehr wird man von unterschiedlichen Akteuren, ja unsichtbaren Taktgebern dirigiert. Die User setzen sich einem panoptischen Blick aus. Smart Bed mit diversen Sensoren setzt die Überwachung auch während des Schlafes fort. Die Überwachung schleicht sich in Form von Convenience immer mehr in den Alltag ein. Die Infomate, die einem Menschen viel Arbeit abnehmen, erweisen sich als effiziente Informanten, die das eigene Selbst überwachen und steuern.

Der Mensch büßt zunehmend seine Autonomie ein

In einer algorithmisch gesteuerten Welt büßt der Mensch zunehmend seine Handlungsmacht, seine Autonomie ein. Er sieht sich einer Welt gegenüber, die seinem Verständnis entgleitet. Er befolgt algorithmische Entscheidungen, die er aber nicht nachvollziehen kann. Algorithmen verwandeln sich in Blackboxen. Die Welt verliert sich in den Tiefenschichten neuronaler Netzwerke, zu denen der Mensch keinen Zugang hat. Informationen allein erhellen die Welt nicht.

Informationen können die Welt sogar verdunkeln. Ab einem bestimmten Punkt sind Informationen nicht informativ, sondern deformativ. Byung-Chul Han stellt fest: „Dieser kritische Punkt ist längst überschritten. Die rapide steigende informationelle Entropie, das heißt das informationelle Chaos stürzt uns in eine postfaktische Gesellschaft.“ Die Unterscheidung von wahr und falsch nivelliert sich. Informationen zirkulieren nun ohne jeden Realitätsbezug in einem hyperrealen Raum. Fake News sind eben auch Informationen, sie womöglich wirksamer sind als Tatsachen. Quelle: „Undinge“ von Byung-Chul Han

Von Hans Klumbies