Manchmal sind schmerzliche Gefühle normal

Randolph M. Nesse vertritt in seinem neuen Buch „Gute Gründe für schlechte Gefühle“ folgende These: „Gerade die evolutionären Entwicklungen, die uns zu sozialen Handeln und kognitiven Leistungen befähigen, sind auch dafür verantwortlich, dass wir mental leiden.“ Die Evolutionsmedizin bietet neue Erklärungsansätze, warum der menschliche Körper so krankheitsanfällig ist, die inzwischen auch bei psychischen Störungen systematisch zur Anwendung kommen. Randolph Nesses Buch ist ein breit gefächerter Bericht von der vordersten Front der Evolutionären Psychiatrie. Psychische Störungen sind eine so große Plage der Menschen, dass sich alle unverzüglich Lösungen wünschen. Die Evolutionäre Psychiatrie kann dazu hilfreiche philosophische Erkenntnisse bieten. Professor Randolph M. Nesse ist Mitbegründer der Evolutionären Medizin. Seit 2014 lehrt er and er University of Arizona, wo er als Gründungsmitglied und Direktor das Center for Evolution and Medicine leitet.

Negative Emotionen haben einen bestimmten Nutzen

Viele Menschen haben sich vermutlich schon einmal gefragt, warum das Leben des Menschen von so viel Leid geprägt ist. Randolph M. Nesse weiß: „Ein Teil der Antwort lautet, dass die natürliche Selektion Emotionen wie Angst, Niedergeschlagenheit und Trauer begünstigt hat, weil sie einen bestimmten Nutzen haben.“ Weitere Antworten leiten sich aus der Erkenntnis her, dass Leiden den Genen eines Menschen zugutekommt. Manchmal sind schmerzliche Gefühle normal, auch wenn man gern darauf verzichten würde.

Doch ein Leben ohne sie kann mit erheblichen Kosten, sprich Nachteilen verbunden sein. Es gibt gute evolutionäre Gründe, warum unstillbare Bedürfnisse, unkontrollierbare Impulse und konfliktreiche zwischenmenschliche Beziehungen weit verbreitet sind. Am wichtigsten ist jedoch, dass die Evolution nicht nur die Ursprünge der erstaunlichen Fähigkeit des Menschen zu Liebe und Güte, sondern auch die Gründe für den Preis erklärt, der dafür zu bezahlen ist. Zum Beispiel in Form von Trauer, Schuldgefühlen sowie einem übermäßigen Interesse daran, was andere über die eigene Person denken.

Angst und Stimmungstiefs können nützliche Reaktionen sein

Sorgfältig zwischen Symptomen, Syndromen und Krankheiten zu unterscheiden, ist bei der psychiatrischen Diagnose genauso wichtig wie bei der Diagnose in der restlichen Medizin. Randolph M. Nesse erläutert: „Genau wie Fieber und Schmerzen können Angst und Stimmungstiefs in bestimmten Situationen normale, nützliche Reaktionen sein. Es ist an der Zeit, sich von der Vorstellung zu verabschieden, dass psychische Störungen eine spezifische Ursache haben müssen.“

Ein Stimmungstief ist zum Beispiel nicht immer ein Phänomen, das von einem fehlgeleiteten Gehirn gesteuert wird. Es kann sich auch um eine ganz normale Reaktion bei der Verfolgung eines unerreichbaren Ziels handeln. Randolph M. Nesse beantwortet die Frage nach dem menschlichen Leid wie folgt: „Statt angesichts von so viel Schmerz im Leben zu erschrecken, sollten wir das Wunder der psychischen Gesundheit, das viele genießen dürfen, mit ehrfurchtsvollem Staunen betrachten.“

Gute Gründe für schlechte Gefühle
Evolutionäre Psychiatrie – Ein neuer Blick auf negative Stimmungen und psychische Beschwerden
Randolph M. Nesse
Verlag: Kösel
Gebundene Ausgabe: 463 Seiten, Auflage: 2024
ISBN: 978-3-466-34814-5, 34,00 Euro

Von Hans Klumbies