Die Einigung Deutschlands hat Europa verändert. Mit der spektakulären Niederlage Frankreichs und der Ausrufung eines geeinten deutschen Reiches im Spiegelsaal von Versailles im Januar 1871 war ein neuer Koloss in der Mitte Europas entstanden. Wo es vierhundert Jahre lang einen Flickenteppich von Kleinstaaten und noch sieben Jahre zuvor fast vierzig Einzelstaaten gegeben hatte, herrschte jetzt eine einzige Macht. Hans Kundnani erklärt: „Deutsche Macht und französische Schwäche erschütterten das europäische Gleichgewicht, das seit dem Ende der Napoleonischen Kriege bestanden und für Frieden in Europa gesorgt hatte.“ Der britische Premierminister Benjamin Disraeli erklärte in einer berühmt gewordenen Rede vor dem Unterhaus im Februar 1871, die „deutsche Revolution“ habe eine „neue Welt“ geschaffen. „Das Gleichgewicht der Macht ist völlig zerstört worden“, sagte er. Der Politikwissenschaftler Hans Kundnani ist Senior Transatlantic Fellow des German Marshall Fund.
Ein Gleichgewicht zwischen den fünf Großmächten sollte für Frieden sorgen
Das Machtgleichgewicht – balance of power – als System der internationalen Beziehungen war im Gefolge des Westfälischen Friedens 1648 entstanden. Es beruhte auf der Vorstellung, wenn die Großmächte sich gegenseitig nur ausreichend bedrohten, dann entstehe ein Art Gleichgewicht, das einen allgemeinen Krieg in Europa verhindern werde. Dahinter wiederum stand die Idee der raison d`etat, der Staatsräson oder des nationalen Interesses, die im Jahrhundert nach 1648 zum Leitprinzip der europäischen Diplomatie wurde.
Die Weigerung des revolutionären Frankreich, sich der Gleichgewichtsidee zu beugen, führte zu den Napoleonischen Kriegen. Doch nach Frankreichs Niederlage 1815 wurde das Gleichgewichtssystem wiederhergestellt und im sogenannten Kongresssystem institutionalisiert. Hans Kundnani erläutert: „Ein Gleichgewicht zwischen den fünf Großmächten – Österreich, Frankreich, Großbritannien, Preußen und Russland – sollte nun für Frieden sorgen. Einer der Schwachpunkte der europäischen balance of power war jedoch Deutschland.
Die Vorstellung von einem geeinten Deutschland schreckte die anderen Großmächte
Vor den Napoleonischen Kriegen hatte es auf dem Gebiet, aus dem anschließend Deutschland wurde, rund dreihundert deutschsprachige Sprachen gegeben. Nach den Befreiungskriegen wurden daraus rund dreißig größere Einheiten, doch diese deutschen Staaten waren entweder zu stark oder zu schwach. Hans Kundnani fügt hinzu: „Wann immer sie schwach und geteilt waren, führte das ihre Nachbarn, vor allem Frankreich, in expansionistische Versuchung. So wurde Deutschland etwa im Dreißigjährigen Krieg zum Schlachtfeld anderer Mächte.“
Andererseits schreckte die Vorstellung eines starken, geeinten Deutschlands die anderen Großmächte, insbesondere Frankreich. Deutschland war somit entweder Machtzentrum oder Machtvakuum – beides aber sorgte in Europa für Instabilität. Schon vor der Reichseinigung waren die anderen europäischen Großmächte angesichts des rasanten Aufstiegs Preußens unter seinem Ministerpräsidenten und späterem Reichskanzler Otto von Bismarck alarmiert gewesen. Doch das neue Reich, das unter seiner Führung 1871 entstand, war um ein Vielfaches mächtiger, als es Preußen je gewesen war. Quelle: „German Power“ von Hans Kundnani
Von Hans Klumbies