Die Ökonomie des Vordrängelns boomt

Das sogenannte „Vordrängeln“ ist eine schnell wachsende Branche. In den USA kann man Agenturen dafür bezahlen, eine Person zu engagieren, die sich in einer Warteschlange für einen selbst anstellt. Jonathan Aldred erläutert: „Die Lobbyisten großer Konzerne machen ausgiebig Gebrauch von solchen Dienstleistungen.“ Sie zahlen für jemanden, der sich an ihrer Stelle in der Warteschlange für Kongressanhörungen oder Sitzungen des Supreme Court anstellt. Der Lobbyist kann dann, kurz bevor die Sitzung beginnt, direkt hineingehen. Im November 2016 bildeten sich in ganz Indien vor den Banken lange Warteschlangen von Menschen. Sie wollten möglichst schnell ihre großen Geldscheine in kleinere umtauschen, bevor sie nicht mehr als gesetzliche Zahlungsmittel gültig waren. Jonathan Aldred ist Direktor of Studies in Ökonomie am Emmanuel College. Außerdem lehrt er als Newton Trust Lecturer am Department of Land Economy der University of Cambridge.

Ein Markt für Organe ist geschmacklos

Reiche bezahlten auch in Indien Arme dafür, sich an ihrer Stelle anzustellen. Früher war es gesellschaftlich verpönt oder sogar illegal, mit seinem Platz in einer Warteschlange Handel zu treiben. Ein chinesischer Teenager verkaufte sogar eine seiner Nieren, um sich von dem Erlös ein iPad leisten zu können. Häftlinge in manchen US-Gefängnissen zahlen dafür, in einen besser ausgestatteten Zellentyp verlegt zu werden. Unternehmen schließen routinemäßig Lebensversicherungen für ihre Angestellten ab und verkaufen dann die Policen an Investoren.

Es gibt einen milliardenschweren Markt für solche Wetten auf den Tod eines Menschen, die ursprünglich als „Toter-Bauer-Lebensversicherung“ bekannt waren. Viele Menschen lehnen diese Art der Geschäftemacherei ab. Aber was genau stört sie eigentlich daran? Die Empörung der Medien über den Verkauf einer Niere hatte wohl hauptsächlich damit zu tun, dass sich der chinesische Teenager mit dem Erlös ein iPad gekauft hat. Ein Markt für Nieren oder andere menschliche Organe mag geschmacklos sein. Aber wenn er die Verfügbarkeit von Organen verbessert, kann er wahrscheinlich Menschenleben retten.

Das ökonomische Denken durchzieht das ganze Leben

Viele Akademiker zeigen sich entsetzt über die Idee, dass reichere Studienanfänger sich den Weg an eine Eliteuniversität mit Geld ebnen könnten. Dennoch sind sich die meisten Menschen darüber einig, dass man mit bestimmten Dingen keinen Handel treiben sollte. Doch sobald man etwas nachdenkt, was auf dieser Liste stehen könnte, scheint es gute Gründe zu geben, warum man es letztlich doch für den freien Markt zulassen sollte. In der guten alten Zeit war es anders, sagt man.

Doch die historische Entwicklung ist keineswegs nur ein einfacher Trend dahingehend, dass alles käuflich sein sollte. Der lebhafte Handel mit Kinderarbeit im viktorianischen England ist inzwischen dankeswerter Weise zu einem Geschäft geworden, das in den meisten modernen Gesellschaften tabu ist. Was das Leben im 21. Jahrhundert von allen früheren Epochen unterscheidet, ist allerdings nicht, dass heute mehr Dinge auf Märkten gehandelt würden. Sondern den Unterschied macht ein Wandel im Denken aus. Dazu zählt die wachsende Bereitschaft, ökonomisches Denken auf sämtliche Aspekte des Lebens anzuwenden. Quelle: „Der korrumpierte Mensch“ von Jonathan Aldred

Von Hans Klumbies