Antigone kämpft gegen ein korruptes Staatssystem

Das wagemutige Theater der griechischen Polis liebte und riskierte es, den Blick in die Abgründe und Gefährdungen des eigenen, fragilen Systems zu werfen. Wie auch Sophokles (497/6 – 406/5 v.u.Z.) dies getan hat. Selbst und gerade in seinem zu Recht berühmtesten und von der Jury der Dionysien ausgezeichneten Stück, „Antigone“. Jürgen Wertheimer erläutert: „Eine todesmutige junge Frau, die ihr Leben einsetzt für – scheinbar ein bloßes Beerdigungsritual, in Wirklichkeit für den Kampf gegen ein in ihren Augen korruptes Herrschaftssystem.“ Eine selbstbewusste junge Frau stellt den Staat auf offener Bühne infrage. Sie will den Ernstfall, sie schafft den Ernstfall. Sie ist der Ernstfall, entschlossen, die Grenzen des Systems zu erkunden und darüber hinauszugehen. Jürgen Wertheimer ist seit 1991 Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Komparatistik in Tübingen.

Im Theater konnte man die radikalsten Fragen stellen

Antigone birgt den Leichnam ihres toten Bruders, gegen den erklärten Willen des Herrschers Kreon, fast unter den Augen der Macht. Das ist so kühn, dass die Koordinaten von oben und unten fast aus dem Gleichgewicht geraten. In Troja oder Mykene gab es eine Festung und eine Unterstadt. Politik wurde von oben gemacht. In Athen entwickelt sich mehr und mehr die Agora zum Mittelpunkt der entscheidenden gedanklichen Auseinandersetzungen. Der Marktplatz der Meinungen befand sich unterhalb der Akropolis.

Jürgen Wertheimer erklärt: „Die Agora war die Arena der Argumente, das Theater ihr Simulationsraum. Der Ort, wo man aufs Ganze gehen und die radikalsten Fragen stellen konnte.“ Antigone lässt nicht ab von ihrem Plan, den Bruder gegen die Anweisungen Kreons nach ihren Regeln zu beerdigen. Selbst die angedrohte und letztlich vollzogene Todesstrafe kann sie nicht umstimmen. Sie nimmt den eigenen Tod mit der Gelassenheit einer Selbstmordattentäterin hin. Und eine Art indirekter Selbstmordanschlag ist dieser Kampf um einen Toten in der Tat.

Die Staatsraison muss Grenzen haben

Am Ende werden nicht nur sie selbst, sondern auch ihr Vater Haimon (Kreons Sohn) und Kreons Frau Eurydike ihr Leben gelassen haben. Der unglückliche Herrscher als „Sieger“ in diesem Kampf von Recht gegen Recht bleibt vereinsamt auf seinem Thron zurück. Als Ikone des individuellen Widerstands wird Antigone indes unsterblich. Bis heute steht das Stück auf den Spielplänen aller Theater und wird besonders unter totalitären Systemen als Parabel des Protests begriffen.

Aber auch für demokratische Systeme macht das Schicksal der unbeugsamen jungen Frau deutlich, dass Staatsraison Grenzen haben muss. Eine extrem wichtige Demarkationslinie zwischen Moral und Pragmatik, die bis heute von hoher Aktualität geblieben ist. Was hier auf offener Bühne verhandelt wird, ist von grundsätzlicher Bedeutung, und auch die Art und Weise, in der diese Auseinandersetzung geführt wird, ist einzigartig und exemplarisch. Die volle Konfrontation wird hier beinahe lustvoll und sprachlich versiert ausgetragen. Quelle: „Europa“ von Jürgen Wertheimer

Von Hans Klumbies

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