Von Erfahrung und Erfahrungen ist heute in allen Bereichen des Lebens die Rede: Menschen machen Erfahrungen, sammeln sie, versuchen aus ihnen zu lernen, und sich an ihnen zu orientieren. Sie wünschen aus Erfahrung klug, möglicherweise sogar weise zu werden. Sie berufen sich auf ihre Erfahrungen, um ihre Behauptungen zu begründen und um fremde Autoritäten infrage zu stellen. Gleichwohl handelt es sich bei dem Wort „Erfahrung“ um eines der trügerischsten in der ganzen Philosophie, wie Alfred North Whitehead einmal bemerkte. Was es bezeichnet, erscheint einem zwar zunächst unmittelbar vertraut und leicht begreiflich. Versucht man jedoch, Erfahrungen begrifflich und theoretisch zu erfassen, gerät man schnell in Schwierigkeiten und Verwirrung. Trotz einiger Bemühungen, die seit der Aufklärung an Zahl und Intensität zugenommen haben, scheint der Terminus bis heute zu den unaufgeklärtesten Begriffen zu gehören, die es gibt.
Die Epoche der Aufklärung hat die Horizonte der Erfahrung erweitert
Ohne Zweifel hat das Zeitalter der Aufklärung die Horizonte der Erfahrung in allen Richtungen und Dimensionen erweitert. Allenthalben bemühte man sich darum, die Methoden, Techniken und Institutionen der Gewinnung, Sammlung und Überprüfung von Erkenntnissen der Erfahrung zu perfektionieren. Die Bedeutung der Erfahrung für die Wissenschaften und ihre Nutzen bringende Anwendung zu Beherrschung der Natur und zur Förderung der menschlichen Wohlfahrt wurde mehr und mehr erkannt.
Aber auch in allen anderen Lebensbereichen öffneten sich die Menschen für Erfahrungen und versuchte diese zu sammeln und differenziert zu artikulieren. Ferne Länder und Kontinente erkundete man mit derselben Neugierde wie die eigene Physiologie und Psychologie. In der Folge rückte auch der Begriff der Erfahrung stärker ins Blickfeld: Es kam zu mannigfaltigen Versuchen, Erfahrungsbegriffe zu analysieren, systematische Erfahrungsphilosophien zu entwickeln und die Rechtsansprüche, aber auch die Grenzen der Erfahrung zu bestimmen.
Die Erkenntnistheorie von John Locke war modellbildend
Es entstanden elaborierte Formen der Erfahrungsphilosophie wie der Empirismus, die eine plausible Alternative zu den dominierenden Systemen der Vernunftphilosophie wie des Rationalismus anboten. Das Versprechen der erfahrungsorientierten Philosophien lag darin, sowohl den überzogenen Erkenntnispessimismus der Skeptiker als auch den übertriebenen Erkenntnisoptimismus und Dogmatismus der Rationalisten zu vermeiden. Die empiristische Einstellung und ihre psychologischen und erkenntnistheoretischen Fundierungen führten zu vielfältigen Anwendungen von der Ästhetik und Ethik bis hin zur Politischen Philosophie und Geschichtsphilosophie.
Modellbildend war dabei die empiristische Psychologie und Erkenntnistheorie von John Locke, der von 1632 bis 1704 lebte, aus der dieser selbst bereits moralische und politische Konsequenzen gezogen hatte. Wirkmächtige philosophische Traditionen, die bei den Vorsokratikern begannen und im Platonismus in Teilen der Stoa weiter entwickelt wurden, hatten die sinnliche Wahrnehmung und die darauf aufbauende Erfahrung gegenüber dem Denken beziehungsweise der Vernunft abgewertet. Quelle: „Handbuch Europäischer Aufklärung“ von Heinz Thoma (Hrsg.)
Von Hans Klumbies