Gesicht und Körper können ein sehr nuancenreiches, präzises System der Kommunikation sein. Aufmerksame Beobachter lauschen sogar auf die Obertöne einer Stimme und erkennen Feinheiten in den Bewegungen der Augenbrauen. Menschen erleben Gefühle körperlich und teilen sie auch körperlich mit. David Gelernter ergänzt: „Die verbale Sprache ist ein mangelhaftes Mittel, gegenüber anderen Menschen auszudrücken, was wir fühlen – und sie ist im Grunde auch unnötig, denn wenn die anderen auch nur halbwegs aufmerksam sind, wissen sie es ohnehin.“ Wenn das Gefühl den Körper erfasst und wie eine Fahne umherweht, ist die daraus entstehende Geste in der Regel eindeutig – allerdings nicht immer. Manchmal sieht man nur die schiere Kraft eines Gefühls, die wie eine Hochspannungswelle bis in die Füße und Finger und von dort hinaus ins Universum schießt. David Gelernter ist Professor für Computerwissenschaften an der Yale Universität.
Die Körpersprache entzieht sich der Kontrolle
Oft drängt es Menschen dazu, starke Gefühle auszudrücken, die krachend aus ihnen herausbrechen, den Deich der Sprache durchschlagen und in den Alltag einfallen. König Lear heult zum Beispiel wie ein Tier, als seine geliebte Tochter ermordet wird, aber wie ein Tier zu heulen gehört sich nicht; also bleibt den Menschen in der heutigen Zeit nichts anderes übrig, als zu improvisieren. Worte sagen das eine, die Stimme sagt unter Umständen etwas anderes. Menschen verständigen sich also gleichzeitig auf zwei Kanälen.
Den ersten hat man unter Kontrolle. Der zweite, der Kanal der Körpersprache, macht, was er will. Wenn Worte versagen, macht sich unter Umständen ihr Klang verständlich. Man deutet den Tonfall, man interpretiert das Schweigen. Manche Menschen sind Virtuosen im Verstehen. Der mentale Aspekt des Fühlens ist nur ein Teil eines größeren Zusammenhangs. Sigmund Freud schreibt: „Wer Augen hat zu sehen und Ohren zu hören, überzeugt sich, das die Sterblichen kein Geheimnis verbergen können.“
Die Körpersprache fließt ebenso automatisch wie jede andere Sprache
Der Begründer der Psychoanalyse fährt fort: „Wessen Lippen schweigen, der schwätzt mit seinen Fingerspitzen; aus allen Poren dringt ihm der Verrat.“ Sigmund Freud entdeckte, dass das Lesen der Körpersprache seiner Patienten ebenso wichtig war wie das Hören ihrer Worte. Manchmal wird kein Wort gesprochen und doch viel Bedeutung vermittelt. David Gelernter erläutert: „Wenn ich in meiner Phantasie die Handlungen oder Gesichtsausdrücke eines anderen genau nachahme, spüre ich häufig auch seine Gefühle – oder ich kann zumindest vermuten, was für Gefühle es sind.“
Man benutzt die Körpersprache anstelle der verbalen Sprache – ein alltäglicher Wechsel. Die Körpersprache fließt ebenso automatisch wie jede andere Sprache. Emotionen machen sich immer auf diese oder jene Weise bemerkbar. Das Gefühl spricht selbst dann, wenn man sich entschlossen hat, es zu unterdrücken. Gedanken – die keine Intensitätsvarianz besitzen und nicht stark oder schwach sein können – sind vom Körper getrennt. Um Gedanken mitzuteilen, braucht man deshalb ein zu diesem Zweck konstruiertes System; die Sprache, die man ausdrücklich zu Hilfe nimmt. Quelle: „Gezeiten des Geistes“ von David Gelernter
Von Hans Klumbies