Autorität hat wenig oder überhaupt nichts mit Gewalt zu tun

Autorität basiert auf Ungleichheit und bewirkt, dass jemand eine selbstverständliche Macht über eine andere Person ausübt, die sich ihr mehr oder weniger freiwillig unterwirft. Autorität hat daher wenig oder überhaupt nichts mit Gewalt zu tun, denn die Unterwerfung geschieht auf freiwilliger Basis. Das Entscheidende steckt für Paul Verhaeghe in der „Selbstverständlichkeit“ dieser Unterwerfung. Autorität funktioniert wie Befehlsgewalt oder militärisches Kommando, das einem von außen übertragen wird: Autorität besitzt, wer das Sagen hat. Das Kommando kann man bekommen, ausüben, verlieren, abgeben – der Ursprung der Autorität liegt also außerhalb der Person selbst. Das ist der wichtigste Unterschied zur Macht. Macht hat eine zweigleisige Struktur und umfasst beispielsweise zwei Personen, von denen eine stärker ist als die andere und daher ihren Willen durchsetzen kann. Paul Verhaeghe lehrt als klinischer Psychologe und Psychoanalytiker an der Universität Gent.

Autorität ist immer ein innerer Zwang

Autorität hingegen hat eine Dreiecksstruktur. Autorität über andere gründet auf einen dritten Faktor und einer externen Quelle, an die alle Beteiligten glauben. Autorität ist immer ein innerer Zwang. Wer Autorität begreifen will, muss ihren Legitimationskern betrachten. Paul Verhaeghe ergänzt: „Eine solche Betrachtung beruft sich häufig auf das, was klassisch als das „natürliche“ Autoritätsmodell gilt, nämlich die Erziehung. In der traditionellsten Ausformung hat der Vater das Sagen, was gut zu der Feststellung passt, dass bis vor Kurzem alle führenden Positionen mit Männern besetzt waren.“

Auf den ersten Blick bietet das eine naheliegende Erklärung für den Ursprung von Autorität. Vaterschaft verleiht eine angenommene natürliche Befehlsgewalt über die Kinder, und sofort hat man eine entsprechende Basis für Autorität. Die väterliche Autorität wird dann gewissermaßen auf andere, verwandte Positionen wie Lehrkräfte, Richter, Priester und so weiter übertragen, die ihrerseits einen Zwang ausüben können, dem sich Menschen freiwillig unterwerfen. Diese Erklärung klingt schlüssig, wenn auch etwas altmodisch.

Die erste psychiatrische Behandlung hieß „moralische Behandlung“

Im Unterschied zur modernen Psychiatrie hat sich Sigmund Freud intensiv mit Autorität beschäftigt. Mentale Störungen sind der Psychiatrie zufolge Abweichungen der Gehirnfunktionen, basta. Dabei wird laut Paul Verhaeghe vergessen, dass die Psychiatrie die einzige medizinische Disziplin ist, die eine Behandlung auch unter Zwang durchführen lassen kann, zur Not mit einer Zwangseinweisung in Einrichtungen, die man früher Irrenhaus nannte. Der Patient wird also weggesperrt. Nicht zufällig hieß die erste psychiatrische Behandlung „moralische Behandlung“.

Sigmund Freud beschreibt, wie seine Patienten mit Gewissensfragen über Sexualität und allem, was damit zu tun hat, sehr heftig rangen. In der viktorianischen Zeit verkörperte der Patriarch die Autorität, Frauen und Kinder mussten sich dem väterlichen Gebot fügen. Das moralische Ringen mit dem eigenen Verlangen, den eigenen Trieben, lässt sich in dieser Zeit auf einen Kampf mit dem Vater zurückführen. Das ist die Kernidee von Sigmund Freuds Ödipus-Theorie, die er darüber hinaus auf Kultur im Allgemeinen ausweitet. Quelle: „Autorität und Verantwortung“ von Paul Verhaeghe

Von Hans Klumbies