Der Einparteienstaat wurde 1917 erfunden

Monarchie, Tyrannei, Oligarchie, Demokratie – diese Herrschaftsformen kannten schon Platon und Aristoteles vor über zwei Jahrtausenden. Doch der nicht freiheitliche Einparteienstaat wurde erst 1917 von Lenin in Russland erfunden. Heute ist er überall auf der Welt von China über Venezuela bis nach Zimbabwe zu finden. Anne Applebaum stellt fest: „Im Gegensatz zum Marxismus ist die illiberale Einparteienherrschaft keine Philosophie. Sie ist ein Mechanismus des Machterhalts und verträgt sich mit vielen Ideologien.“ Sie funktioniert, weil sie zweifelsfrei definiert, wer der Elite angehört – der politischen Elite, der kulturellen Elite, der finanziellen Elite. In den vorrevolutionären Monarchien Russlands und Frankreichs fiel das Recht zur Herrschaft der Aristokratie zu. Diese definierte sich über strenge Regeln der Heirat und der Etikette. Anne Applebaum ist Historikerin und Journalistin. Sie arbeitet als Senior Fellow an der School of Advanced International Studies der Johns Hopkins University.

Alte gesellschaftliche Hierarchien bleiben erhalten

In modernen westlichen Demokratien wird dieses Recht zumindest theoretisch in verschiedenen Formen von Wettbewerb vergeben. Dazu zählen politischer Wettstreit und Wahlen, Leistungstests, die über den Zugang zur höheren Bildung und zum Beamtentum entscheiden sowie freie Märkte. In der Regel bleiben jedoch Überreste alter gesellschaftlicher Hierarchien erhalten. Dennoch sollten diejenigen Politiker regieren, die am kompetentesten sind und die meisten Menschen ansprechen.

In den staatlichen Institutionen – dem Justizsystem und dem Beamtentum – sollten die Qualifiziertesten beschäftigt sein. Anne Applebaum fordert: „Die Bedingungen des Wettbewerbs sollten für alle Bewerber möglichst gleich sein, um ein faires Ergebnis zu gewährleisten.“ Lenins Einparteienstaat basierte allerdings auf anderen Werten. Er stürzte die aristokratische Ordnung, ersetzte sie aber nicht durch ein Wettbewerbsmodell. Der bolschewistische Einparteienstaat war nicht nur undemokratisch, sondern er lehnte auch Wettbewerb und Leistung ab.

Wahre Gläubige kommen im Einparteienstaat nach oben

Studienplätze, Beamtenstellen und Positionen in Regierung und Industrie wurden nicht an die Fleißigsten und Fähigsten vergeben, sondern an die Treuesten. Man kam nicht aufgrund von Talent oder Einsatz voran, sondern weil man sich an die Vorgaben der Partei hielt. Diese Vorgaben konnten sich zwar ändern, doch in entscheidenden Punkten blieben sie konstant. Die frühere Herrschaftselite und ihre Kinder sowie verdächtige ethische Gruppieren blieben ausgeschlossen.

Anne Applebaum erklärt: „Die Kinder der Arbeiterklasse wurden bevorzugt. Und vor allem wurden diejenigen vorgezogen, die ihren Glauben an die Partei besonders lautstark verkündeten und an Parteiveranstaltungen und öffentlichen Jubelfeiern teilnahmen.“ Anders als die üblichen Oligarchien ermöglicht der Einparteienstaat den Aufstieg. Wahre Gläubige kommen nach oben, und das ist besonders für diejenigen attraktiv, die unter dem früheren Regime nichts wurden. Hannah Arendt bemerkte schon in den 1940er Jahren, dass der Totalitarismus vor allem die Gekränkten und Erfolglosen anzieht. Quelle: „Die Verlockung des Autoritären“ von Anne Applebaum

Von Hans Klumbies