Der Kulturkonsument ist kein Allesfresser

Die Grenze zwischen Hochkultur und Populärkultur löst sich zukünftig auf. Die traditionelle Hochkultur hat für die neue Akademikerklasse ihren privilegierten Status als Ausdruck des legitimen Geschmacks verloren. Andreas Reckwitz nennt als Beispiele die klassische Musik, die Literatur und die bildende Kunst. Vielmehr greift man nun vorurteilslos auch auf vormals eindeutig als populärkulturell qualifizierte Quellen zurück. Andreas Reckwitz nennt Beispiele: „Man besucht Pop-Konzerte, schaut Hollywood-Blockbuster oder begeistert sich im Fußballstadion.“ Der amerikanische Soziologe Richard Peterson hat daraus den Schluss gezogen, dass der postmoderne Kulturkonsument zu einem „Allesfresser“ geworden ist. Dabei geht es hier nicht um eine wie auch immer entstandene Geschmacksdifferenz. Denn nun ist potenziell alles geeignet, zur Entfaltung eines nach Authentizität und Selbstverwirklichung strebenden Lebensstils beizutragen. Andreas Reckwitz ist Professor für Kultursoziologie an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt / Oder.

Die Populärkultur muss authentisch erfahrbar sein

Damit können auch populärkulturelle Objekte und Ereignisse interessant und anziehend werden. Das gilt aber nur unter der Bedingung, dass sie als authentisch erfahrbar sind. Auf der anderen Seite verlieren klassisch hochkulturellen und bildungsbürgerliche Objekten keineswegs ihre Relevanz. Sie erleben sogar eine Renaissance. Das ist ablesbar am Boom der Museen und Konzerthäuser seit den 1990er Jahren, die sich freilich der gleichen Authentizitätsbedingung zu unterwerfen haben.

Andreas Reckwitz weiß: „Auch die Hochkultur wird ausgesondert, wenn sie unecht, langweilig, steif und erlebnisarm erfahren wird. Und auf die Populärkultur wird verzichtet, wenn sie primär billig, kommerziell, primitiv und aus der Retorte wirkt.“ Die Hyperkultur löst schließlich auch die strikte Grenze zwischen dem „Eigenen“ und dem „Fremden“, zwischen Kulturkreisen, Nationen oder Regionen auf. Für den singularistischen Lebensstil gibt es keinen Grund mehr, Objekte und Praktiken der eigenen Kultur gegenüber jenen, die aus anderen Kulturen stammen, vorzuziehen.

Der Kultur-Mix in den Metropolen wirkt anregend

Der Grund dafür ist zunächst kein politischer oder moralischer. Sondern er ist im Selbstverwirklichungsstreben und dessen beständiger Suche nach andersartigen Erfahrungen verankert. Ein kultureller Ethnozentrismus würde schlicht eine Einschränkung jener Erlebensmöglichkeiten bedeuten, welche die Welt-Kultur bietet. Andreas Reckwitz stellt fest: „Das ehemals Fremde wird so zur potenziellen Quelle der Bereicherung des Selbst.“ Die neue Mittelklasse empfindet den bunten Mix in den Metropolen als anregend.

Vor dem Hintergrund des Fremden kann dann auch wieder eine partielle Rückbesinnung auf die lokale oder nationale Kultur stattfinden. Angesichts der Vergleichsmöglichkeiten schaut man auf das Eigene. Andreas Reckwitz nennt als Beispiele die schwäbische Küche, die Küste der Nordsee oder Franz Schubert. Dabei betrachtet man sie mit der Brille des Fremden und findet es ungeahnt bereichernd. Für Andreas Reckwitz ist das Subjekt der neuen Mittelklasse eben kein kultureller „Allesfresser“, sondern ein Individuum, das immer auf der anspruchsvollen Suche nach dem Singulären und Authentischen ist. Quelle: „Die Gesellschaft der Singularitäten“ von Andreas Reckwitz

Von Hans Klumbies