Der User will Likes und Shares um jeden Preis

Der Journalismus hat in seiner aufklärenden Rolle die Aufgabe, Öffentlichkeit herzustellen und die Gesellschaft mit relevanten Informationen zu versorgen. Anders Indset stellt fest: „War einst die Produktion und Verbreitung von News aufwendig und demzufolge kostspielig, so gehen die Grenzkosten heute gegen null. Produktion folgt in Echtzeit. Studioqualität ist Rohstoff, der Zugang wird von der Werbung finanziert.“ Kaum sind 280 Zeichen erfasst – nachdem Twitter den Text um das Doppelte erweiterte –, muss der User ihn verbreiten. Likes und Shares um jeden Preis. Bleibendes hat ausgedient, es zählt nur noch der Moment. Die renommierte „Washington Post“ hatte einst den Anspruch, Storys zu drucken, welche die „erste Rohfassung der Geschichtsschreibung“ sind. Heute sind Journalisten und Medien auch dazu gezwungen, auf Tweets zu reagieren. Anders Indset, gebürtiger Norweger, ist Philosoph, Publizist und erfolgreicher Unternehmer.

Qualitätskriterien verlieren an Wert

Wer als Erster berichtet, hat gewonnen, Fakt oder Fiktion spielt keine Rolle. Es grüßt aus der Ferne der ehemalige „Spiegel“-Journalist Claas Relotius mit seinen 19 Preisen. Es muss schnell gehen, sonst lässt sich der Post nicht monetarisieren. Submission sticht Substanz. Die Verbreitung ist wichtiger als die Botschaft. Automatisiert durch Bots, füllt man die Kanäle. Anders Indset stellt Fragen: „Was können wir noch glauben? Was lässt sich lesen? Welche Rolle hat journalistische Arbeit in unserer Gesellschaft heute?“

Qualitätskriterien verlieren an Wert, Substanz spielt gegen „das Netzwerk“ keine Rolle, nicht einmal bei den Traditionsunternehmen. Sogar der Herr ist heute Teil der Knechtschaft. So wendet er sich seinem neuen Herrn, der Technologie und dem Digitalen, zu und merkt dabei seine eigene Selbstausbeutung nicht. Auch die Rolle der Medien und des Journalismus – zumindest in ihrer traditionellen Form – steht auf dem Prüfstand. Streng genommen sollen Journalisten Chronisten sein.

Es herrscht eine Sehnsucht nach intellektuellem Tiefgang

Als Meinungsmacher sind sie Teil des Systems, das sie kontrollieren wollen, und als Sprachrohr Erfüllungsgehilfen irgendeiner Interessengruppe. Die einst so penibel recherchierenden und inhaltsgetriebenen Journalisten sind heute Reaktionswesen der Twitter-Welt. Multiplikatoren und Erklärer verwandeln sich in Durchlauferhitzer der Konsumgesellschaft. Einst Quelle von Wissen, Einordnung und Identifikation, stehen traditionelle Medien und Journalisten heute in direktem Wettbewerb mit Meinungsbildnern.

Nur in Podcasts und Dialogen sind die Meinungsmacher als Moderatoren objektivierende Treiber eines Diskurses. Denn heutzutage scheint eine Sehnsucht nach intellektuellem Tiefgang zu herrschen, die auf eine Welt der Kurfristigkeit und Schnelligkeit trifft. Anders Indset kritisiert: „Ohne journalistische Ausbildung wachsen perfekte Kommunikatoren heran.“ Traditionelle Medien haben noch Strahlkraft, aber nur so lange die Werbenden noch an deren Idee glauben und das Geld da ist. Die Substanz findet man beim Substanziellen, und das hat im Medienhaus heute kein Angestelltenverhältnis. Quelle: „Das infizierte Denken“ von Anders Indset

Von Hans Klumbies