Für Alexander Mitscherlich ist die Art und Weise, wie die Menschen ihre Umwelt gestalten, ein Ausdruck ihrer inneren Verfassung. Schon Jakob von Uexküll sagte: „Die Umweltlehre ist eine Art nach außen verlegter Seelenkunde.“ In der Verfassung von Bayern heißt es beispielsweise, dass der Genuss der Naturschönheiten und die Erholung in der freien Natur, insbesondere der Zugang zu Wäldern und Bergweiden, das Befahren der Gewässer sowie das Pflücken wildwachsender Waldfrüchte jedermann gestattet ist. Der Bevölkerung sind die Zugänge zu Bergen, Seen und Flüssen freizuhalten, im Falle eines Konflikts von Privat- und Allgemeininteresse sogar durch Einschränkung des Eigentumsrechts freizumachen. Doch die Wirklichkeit sieht ganz anders aus. An vielen bayerischen Seen haben Verbotsschilder die Vorherrschaft übernommen: „Privatweg“, „Anlegen verboten“, „Baden verboten“ oder „Achtung, bissiger Hund“.
Das Erlebnis von Einsamkeit und Stille ist im Urlaub fast nicht mehr möglich
Heutzutage ist es eine Statusfrage, an der Natur besitzend teilzuhaben. Laut Alexander Mitscherlich hätte das nicht so geschehen können, wenn die Menschen nicht ein so starkes Bedürfnis drängte, aus dem städtischen Raum zu fliehen. Alexander Mitscherlich schreibt: „Es ist laut, verkehrsüberflutet, das Fortkommen in ihm ist zeitraubend, und er hat auch sonst noch viele Unannehmlichkeiten.“ Außerdem gibt es die Kontrasterfahrung, die den Städter in die Natur und den Landbewohner in die Stadt treibt.
Die Kultur des Menschen und die Natur wurden bisher laut Alexander Mitscherlich in einem Zusammenhang der Ergänzung erlebt. Die Reiseindustrie der Gegenwart macht die Erfüllung des Kontrastwunsches nach Einsamkeit, nach Stille, nach nichtorganisiertem Dasein immer unmöglicher oder wenigstens umso schwieriger. Dies ist umso gravierender, da dieser Wunsch vielleicht ein menschliches Grundbedürfnis zur Erhaltung des psychischen Gleichgewichts darstellt.
Das Leben in den Vororten der Städte verliert immer mehr seinen Sinn
In diesem Zusammenhang versteht Alexander Mitscherlich auch die Kompromisslösung für den finanzkräftigeren Bürger: Er kauft sich die Natur, zieht einen Zaun darum und spielt in ihr den Landbewohner. Aber er tut dies nicht nur am Tegernsee oder in der Toskana, sondern auch im heimischen Vorort. Alexander Mitscherlich schreibt: „Hier bildet sich eine neue Kaste von Privilegierten; sie hat auch schon Rückwirkungen auf das Rollendasein.“ Als Beispiele nennt Alexander Mitscherlich die „Vorortgattinen“, die in Amerika treffender „grüne Witwen“ heißen.
Das Leben in den Vororten verliert in den Ballungsräumen, wie sie gegenwärtig strukturiert sind, immer mehr an Sinn. Es wird zu einer Belastung, weil man es nur nach erschöpften Fahrten in verstopften Straßen oder überfüllten Zügen erreichen kann. Die Menschen müssen wieder lernen, darauf zu verzichten, durch Bauwerke ihren Status zu repräsentieren und sich Natur zu Wucherpreisen zu kaufen. Denn es lässt sich nicht widerlegen, dass sich auch die sogenannten Villenvororte ebenso gesichtslos in das Umland der Städte hineinfressen wie die hässlichen Industriegebiete.
Kurzbiographie: Alexander Mitscherlich
Der Arzt, Psychoanalytiker und Schriftsteller Alexander Mitscherlich, geboren am 20. September 1908 in München, leitete von 1960 bis 1976 das von ihm gegründete Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt am Main. Im Jahr 1969 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Zu seinen Hauptwerken zählen: „Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft“, „Die Unwirtlichkeit unserer Städte“, „Die Unfähigkeit zu trauern“ sowie „Die Idee des Friedens“. Alexander Mitscherlich starb am 26. Juni 1982 in Frankfurt am Main.
Von Hans Klumbies