Der Sozialstaat sorgt für die Bedürftigen

Heinz Bude begreift den Sozialstaat als Form institutionalisierter Solidarität. Niemand wird hier seinem Schicksal überlassen. Man kümmert sich um jene Mitmenschen, die in eine der drei Kategorien von Versorgungsbedürftigkeit fallen: Alter, Arbeitsunfähigkeit und Arbeitslosigkeit. Heinz Bude nennt sie die drei Standardrisiken der industriellen Arbeitsgesellschaft. Das Arbeitsleben ist ein „gefährdetes Leben“, um Judith Butler zu zitieren. Deshalb bedarf es der Zuverlässigkeit von Solidarität, die den verletzlichen Einzelnen die genügende Erwartungssicherheit verleiht, um mit dieser Situation vielfältiger Gefährdungen zurechtzukommen. Arbeitslosigkeit, Arbeitsunfähigkeit und Alter passieren und verletzen die Einzelnen. Deshalb trägt eine „anständige Gesellschaft“ dafür Sorge, dass die Herabwürdigung und Aussortierung für die Einzelnen nicht zu schlimm ausfallen. Heinz Bude studierte Soziologie, Philosophie und Psychologie. Seit dem Jahr 2000 ist er Inhaber des Lehrstuhls für Makrosoziologie an der Universität Kassel.

Solidarität definiert sich als Vorsorge und Versorgung

Wer sorgt dafür? Heinz Bude antwortet: „Nicht der Staat mit seinen Steuern, jedenfalls in Deutschland nicht, sondern die Gemeinschaft der Beitragszahler zur Sozialversicherung.“ Diese Versicherung ist Teil eines eigenständigen Bereichs des gesellschaftlichen Lebens, den man als das soziale kennzeichnet. Es handelt sich dabei um eine Welt von Berechtigungen, Gutachten, Tests, Probeläufen und Animierungen mit entsprechenden Kräften, Bündnissen, Feindschaften und Widerständen.

So entsteht eine neue Mischbildung von Öffentlichem und Privatem. Diese bringt eine eigentümliche Verbindung von Eingriffe und Rückzügen des Staates mit sich. In den Kategorien des Sozialen wird Solidarität als Vorsorge und Versorgung definiert, auf welche die Einzelnen im sozialen Rechtsstaat ein Anrecht haben. Und zwar als Staatsbürger und nicht nur als Arbeitsbürger. Auf eine Mindestsicherung haben auch Personen ein Anrecht, die noch nie gearbeitet haben und vielleicht auch nie arbeiten werden.

Solidarität ruft den Wunsch nach Nähe wach

Die Staatsbürgerschaft beinhaltet nicht nur die bürgerlichen Freiheitsrechen und die politischen Beteiligungsrechte. Darüber hinaus seit der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen von 1948 auch das soziale Recht auf eine materielle Grundversorgung als notwendige Voraussetzung der freien und gleichen Teilhabe am Gemeinwesen. Errechenbare Versorgungsansprüche manchen mildtätige Solidaritätserweise überflüssig. Für das Alter ist das aufgrund der Sterbetafeln einfacher zu bewerkstelligen als für die Arbeitsunfähigkeit. Die Umstellung von wechselseitiger Hilfe auf behördliche Versorgung bringt eine Veränderung der Sozialstruktur mit sich.

Ein Gefühl der Solidarität, das mit Erfahrungen wechselseitiger Hilfe, persönlichen Vertrauens und einer gemeinsamen Dauer verbunden ist, will sich nicht mehr einstellen. Taktisches Zusammenrücken, kluge Vereinbarungen und kluges Miteinander schaffen noch keine Solidarität. Das Wort Solidarität ruft den Wunsch nach Nähe wach. Solidarität bedeutet, dass Treue, Bindung und der gemeinsam erlebte Schmerz die Grundlage einer gelebten Nähe darstellen, die das Ich nicht mit sich allein lässt. Solidarität appelliert an eine vielleicht nicht eingestehbare oder nicht darstellbare Gemeinschaft, in welcher der Einzelne zugleich losgelöst, unterschieden und gebunden sein kann. Quelle: „Solidarität“ von Heinz Bude

Von Hans Klumbies