In der Geschichte des europäischen 20. Jahrhunderts wird dem Ersten Weltkrieg der Charakter einer Epochenschneide zugemessen. Und die Gründe, warum er als einer der tiefsten Einschnitte in der neueren Geschichte des Kontinents angesehen wird, sind für Ulrich Herbert schwerwiegend: Erst hier sei das 19. Jahrhundert wirklich zu Ende gegangen: „Mit dem Fall des Deutschen Kaiserreiches stürzte auch die Habsburger Doppelmonarchie; ein Jahr zuvor war bereits die Herrschaft des russischen Zaren durch die Oktoberrevolution beendet worden, und auch das Reich der Osmanen stand vor dem Untergang.“ Die vier großen Reiche, gekennzeichnet durch die Vorherrschaft vormoderner Kräfte, durch die herausgehobene Position des Militärs und durch die Unterdrückung der nationalen Minderheiten, brachen zusammen. Ulrich Herbert zählt zu den renommiertesten Zeithistorikern der Gegenwart. Er lehrt als Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg.
Die USA gewinnt nach dem Ersten Weltkrieg enorm an Bedeutung
Alle vier Reiche hatten große Gebietsverluste zu beklagen. Aus der Erbmasse von dreien dieser Nationen entstanden in Ostmitteleuropa zahlreiche kleine Nationalstaaten. Das Zeitalter der multinationalen Reiche war nach dem Ersten Weltkrieg vorbei. Die Zukunft gehörte dem Nationalstaat. Ulrich Herbert ergänzt: „Mit dem Endes des Krieges verbunden war schließlich auch der Beginn der Relativierung der europäischen Dominanz. Der Aufstieg der USA korrelierte mit dem Abstieg der europäischen Mächte sowohl in militärischer wie auch in wirtschaftlicher Hinsicht.“
Der Erste Weltkrieg markierte auch den Anfang vom Ende der europäischen Kolonialherrschaft ebenso wie den Beginn der Abhängigkeit der europäischen Volkswirtschaften von der neuen Vormacht des Westens. Indes lässt sich der Erste Weltkrieg auch als Ende einer langen Phase relativer Ruhe bestimmen, in der sich zwischen dem Juni 1815 und dem Juli 1914 die bürgerliche Gesellschaft in Europa mit ihren Kernelementen der nationalen, der liberalen und der sozialen Bewegung herausgebildet hatte, unterbrochen nur von wenigen größeren kriegerischen Auseinandersetzungen.
Der Erste Weltkrieg war die Ur-Katastrophe des Jahrhunderts
Nach dem Ersten Weltkrieg begann allerdings auch eine jahrzehntelange Epoche der Diktaturen, Bürgerkriege und Revolutionen, der Vertreibungen und Genozide, der wirtschaftlichen Zusammenbrüche und politischen Katastrophen, die in Westeuropa 1945, in Osteuropa erst 1990 mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion endete. Der Erste Weltkrieg, so das Wort des amerikanischen Diplomaten George F. Kennan, war insoweit die „Ur-Katastrophe dieses Jahrhunderts“. Der Bruch zwischen einer Phase relativer Ruhe und jener der umfassenden Dynamisierung liegt für Ulrich Herbert allerdings nicht zwischen 1914 und 1918.
Die rapiden Umwälzungen hatten ihren Ursprung schon in den drei Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg. Hier entstanden jene Voraussetzungen für die Phase der Bürgerkriege und Katastrophen, welche die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts in Europa so weitgehend bestimmten. Ulrich Herbert ergänzt: „Dass der Erste Weltkrieg überhaupt und dann in diesem bis dahin nie gekannten Ausmaß der Gewalt entbrannte, war Folge und Ausdruck der zuvor erlebten Prozesse der radikalen Entgrenzung und Veränderung.“ Quelle: „Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert“ von Ulrich Herbert
Von Hans Klumbies