Die meisten Menschen glauben, die Angst sei bloß ein unangenehmes Gefühl, das man verhindern und ausschalten kann. Etwa durch den Kauf von Goldbarren, durch die Einnahme von Ernährungsergänzungsmittel oder durch eine Psychotherapie. Für die Philosophin Rebekka Reinhard ist die Angst aber viel mehr. Sie ist ein wesentlicher Bestandteil der menschlichen Existenz. Durch sie erfährt das Individuum die Unbestimmtheit seines Schicksals. Sie folgt damit den Spuren des großen deutschen Philosophen Martin Heideggers, der die Angst eine Grundbefindlichkeit des Menschen genannt hat. In der Angst ist den Menschen unheimlich, da sie sich in einem Zustand des Nichts und des Nirgends befinden. Die alltägliche Vertrautheit ist verloren gegangen.
Die Angst geht der Gefahr voraus
Das Unheimliche an der Angst ist laut Rebekka Reinhard, dass sie die Menschen aus ihren vertrauten Bezügen herausreißt. Sie macht die Menschen heimatlos, egal wo sie sich gerade befinden. Die Angst geht jeder Bedrohung, jeder Gefahr voraus. Rebekka Reinhard schreibt: „Einfach deshalb, weil das menschliche Dasein an sich beängstigend offen und ungewiss ist. Wir haben Angst, weil wir Menschen sind und nicht, weil dieses oder jenes Risiko ansteht.“
Für die Philosophin besteht ein gravierender Unterschied zwischen der Grundbefindlichkeit Angst und der Lebenseinstellung Vorsicht. Die Vorsichtigen hüten sich davor, Opfer zu werden. Die Übervorsichtigen versuchen ihre Kontrolle über ihr Leben möglichst weit auszudehnen. Ihre Devise lautet: „Nur nicht vom Weg abkommen, nur nicht scheitern.“ Sie wollen sich nicht selbst anklagen müssen.
Die Ungewissheiten des Leben lassen sich nicht ausschalten
Rebekka Reinhard ist davon überzeugt, dass die Vorsichtigen deutlich an Spontaneität verlieren, weil sie ständig die Drohung im Hinterkopf haben, Opfer eines Schicksalsschlages oder, schlimmer noch, der eigenen Unfähigkeit zu werden. Sie schreibt: „Wo es ständig etwas zu bedenken gibt, sind Mut, Beherztheit, Unverzagtheit, Zivilcourage rar.“ Die Menschen trauen sich immer weniger zu. Weil ihnen jederzeit etwas Unangenehmes zustoßen könnte, versuchen sie erst gar nicht mehr, ihre Probleme selbst zu lösen.
Deshalb suchen so viele Menschen Rat bei Experten, Beratern, Coachings, in Seminaren und in Buchratgebern, die leicht zu vermittelnde Lehren destillieren. Für Rebekka Reinhard bleibt die Frage, ob die Menschen ihre Probleme vielleicht auch ganz allein in den Griff bekommen hätten, immer unentschieden. Am Ende muss doch jeder Mensch mit der Ungewissheit des Lebens selbst fertig werden. Schon Martin Heidegger sagte: „Die vielen Angst machenden Möglichkeiten des Daseins auf einen Nenner zu bringen oder gar zu reduzieren, ist unmöglich. Denn die Welt ist nichts anderes als eine Unendlichkeit von Möglichkeiten.“
Von Hans Klumbies