Man muss ein schlechtes Leben mehr fürchten als den Tod

Im Titelthema geht das neue Philosophie Magazin 01/2020 der Frage nach „Wofür es sich zu leben lohnt“. Was erfüllt das Dasein mit Sinn? Ist es die Verantwortung für das Morgen oder die Intensität des Jetzt? Antworten auf diese Fragen geben namhafte Denker und Denkerinnen wie Robert Pfaller, Barbara Vinken, Markus Gabriel oder Dieter Thomä und viele andere. Ihre Beiträge schärfen den Blick für das, was wirklich zählt. Viele Menschen ziehen die Bilanz ihres Lebens leider erst dann, wenn es schon zu spät. Läge es nicht näher, die Frage nach dem Sinn des Lebens zu einem Gradmesser von Gegenwart und Zukunft zu machen. Dadurch ist man gegen spätere Gefühle der Reue weitestgehend geschützt. Der Philosoph Søren Kierkegaard unterscheidet eine ästhetische, auf Selbstgenuss und Sinnlichkeit ausgerichtete Existenz, die sich auf das Hier und Jetzt konzentriert. Und eine ethische, die sich der Verantwortung – und damit eher der Zukunft – verschreibt.

Am Urgrund der Existenz befindet sich stets eine Freiheit

Wer glaubt, die Ethik gegenüber der Ästhetik privilegieren zu können, begibt sich auf einen Irrweg. Denn ein lohnenswertes Leben lässt sich zumal im 21. Jahrhundert schwerlich ohne Sinnlichkeit und Selbstbezug begreifen. Mehr noch: Der Genuss erstreckt sich zunehmend auf die Ethik selbst. Auf die Arbeit. Das Familienleben. Das politische Engagement. Theoretisch kann jeder Mensch werden, was er noch nicht ist, leben wie er noch nicht lebt, aber tief, im Innern, leben würde. Es gibt allerdings keine Garantie, ob diese Veränderung wirklich gut ausginge.

Nils Markwardt schreibt in seinem Beitrag: „Aber das heißt, dass sich am Urgrund der Existenz stets eine Freiheit befindet, die zumindest die Möglichkeit offenhält, dass alles auch immer anders sein, anders werden könnte. Und wenn es sich dafür nicht zu leben lohnt – wofür dann?“ Der österreichische Philosoph Robert Pfaller plädiert dafür, das gute Leben nicht dem nackten zu opfern. Um ein gutes Leben gewinnen zu können, muss man manchmal sogar bereit sein, das nackte Leben aufs Spiel zu setzen. Man muss schlechtes Leben mehr fürchten als den Tod.

Der Kampf für eine humane und offene Gesellschaft lohnt sich

Die Rubrik Klassiker ist diesmal dem französischen Philosophen Pierre Bourdieu und seinem Hauptwerk „Die feinen Unterschiede“ gewidmet. Das Buch zählt zu den einflussreichsten soziologischen Werken des 20. Jahrhunderts. Auch außerhalb seines Magnum Opus beschäftigte sich Pierre Bourdieu mit dem Habitus. Er versteht darunter ein Produkt der Geschichte und die milieuspezifischen Prägungen einer Person. Der Habitus ist „Natur gewordene Gesellschaft“, die dem Menschen buchstäblich in die Knochen fährt, um all seine geistigen und körperlichen Ausdrucksformen zu prägen.

Charles Taylor, einer der einflussreichsten Philosophen der Gegenwart, warnt vor dem Glauben, dass sich Demokratien von selbst stabilisieren würden: „Wenn Menschen unzufrieden sind, brauchen sie das Bewusstsein, sich in demokratische Prozesse einbringen und die Dinge ändern zu können.“ Die Demokratie braucht eine Ethik der Partizipation. Zudem gehörte es immer zu den Überzeugungen von Charles Taylor, dass es sich lohnt, für eine humane und offene Gesellschaft zu kämpfen.

Von Hans Klumbies