Jeder Mensch sollte selber denken

Die kosmopolitische Erziehung findet laut Immanuel Kant in vier Stufen statt. Sie beginnt erstens mit einer Vorstufe, der Disziplinierung, setzt sich in zwei Hauptstufen, zweitens der Kultivierung und drittens der Zivilisierung, fort. Sie endet viertens in der entscheidenden, eben kosmopolitischen Erziehung, die auf die Moral abzielt. Otfried Höffe erklärt: „Dass Immanuel Kant die Erziehung letztlich auf die Moral ausrichtet, wird man von ihm, dem großen Moralphilosophen, erwarten. Bemerkenswerter sind daher die anderen drei Stufen. Diejenige der Erziehung will er nicht auf eine einzige Aufgabe, die Moral, verpflichten: Lediglich ein Moralwesen soll der Mensch nicht werden.“ Um Missverständnissen der zweiten Stufe zu entgehen, ist Immanuel Kants engerer Begriff der Kultivierung zu beachten. Otfried Höffe ist Professor für Philosophie und lehrte in Fribourg, Zürich und Tübingen, wo er die Forschungsstelle Politische Philosophie leitet.

Eine exklusiv antiautoritäre Erziehung ist naiv

In der Pädagogik von Immanuel Kant spielt die externe Kultivierung keine Rolle. Und die interne Kultivierung bezeichnet nicht den Gesamtprozess der Entfaltung menschlicher Anlagen, sondern nur einen wohlbestimmten Teil. Die Freiheitsaufgabe der Erziehung muss sich in deren Methode und Dialektik widerspiegeln. Immanuel Kant schreibt: „Der Mensch darf nicht bloß dressiert, abgerichtet, mechanisch unterwiesen, er muss vielmehr wirklich aufgeklärt werden.“ Gemäß Immanuel Kants Verständnis von Aufklärung soll er also nicht gewissen Autoritäten unterworfen. Der Mensch soll vielmehr zum Selbstdenken gebracht werden.

Die Vorstufe der eigentlichen Erziehung soll die Tierheit in der Menschheit überwinden. Sie besteht in jenem Paradox, das eine exklusiv antiautoritäre Erziehung in ihrer Naivität übersieht. Weil ein Mensch, dem es an Disziplin fehlt, unfähig ist, selbst zu wählen, braucht es einen gewissen Zwang. Otfried Höffe erläutert: „Es versteht sich, dass er nicht Selbstzweck, sondern lediglich um der Freiheit willen vonnöten ist.“ Für die Erziehung ist der Blick auf die Kinder entscheidend, die in der Tat vor jeder Erziehung sich lieber ihren jeweiligen Einfällen und Flausen unterwerfen. Dabei bringen sie in ihrer Unbesonnenheit sich und andere in Gefahr.

In der Erziehung benötigt man die Disziplinierung

Otfried Höffe stimmt Immanuel Kant darin überein, dass jemand, der in der exklusiv antiautoritären Erziehung die erste Stufe, das Disziplinieren, verabsäumt, den Kinder mehr schadet, als jemand, der die zweite Stufe, die Kultivierung, vernachlässigt. Es gibt dafür ein überzeugendes Argument: Die Kultivierung kann man nachholen, die Disziplinierung aber nicht. Ganz zu Anfang lebt das Kind unter einem Despotismus der Begierden. Die pädagogisch entscheidende Alternative heißt deshalb nicht: Freiheit oder Zwang, sondern Despotismus der Begierden oder dessen Überwindung.

Immanuel Kants Einspruch gegen den Despotismus der Begierden beziehungsweise gegen die Wildheit erfolgt ohne jeden moralisierenden Unterton. Die Erziehung zielt nicht etwas auf ein Freiwerden von der sinnlichen Natur: Im Gegenteil wird den Trieben sogar eine positive Bedeutung zugebilligt, da die Natur sie den Menschen beigegeben hat, um die Bestimmung der Tierheit in ihm nicht zu vernachlässigen oder gar zu verletzen. Unter der Tierheit wiederum sind nicht inhumane Perversionen oder Bestialitäten zu verstehen, sondern Antriebskräfte, die der Mensch mit Tieren teilt. Quelle: „Kritik der Freiheit“ von Otfried Höffe

Von Hans Klumbies