Selbst die weisesten Propheten können ihren Blick nicht über den Möglichkeitshorizont ihrer Zeit hinaus richten. Jedoch verändert sich dieser Horizont mit jeder kleinen Veränderung, wenn der menschliche Geist nach außen blickt. Entweder um dabei die Natur zu beobachten oder sich nach innen wendend, seine eigenen Gegebenheiten in Frage zu stellen. Maria Popova schreibt: „Durch das Geflecht dieser Gewissheiten, gestrafft von Natur und Kultur, sieben wir die Welt. Doch ab und zu – ob durch Zufall oder bewusste Anstrengung – lockert sich der Draht, und durch die Maschen schlüpft die Keimzelle einer Revolution.“ Johannes Kepler begeisterte sich erstmals als Student in Tübingen für das heliozentrische Modell. Das war ein halbes Jahrhundert nachdem, nachdem Nikolaus Kopernikus seine Theorie veröffentlicht hatte. Die Bulgarin Maria Popova ist eine in den USA wohnhafte Autorin, Intellektuelle und Kritikerin. Sie ist bekannt als Gründerin der Online-Plattform Brain Pickings.
Johannes Kepler sah in der Wissenschaft seine Berufung
Der zweiundzwanzigjährige Johannes Kepler, der eigentlich Theologie studierte, schrieb eine Dissertation über den Mond. Darin wollte er die kopernikanische These beweisen, dass sich die Erde gleichzeitig um die eigene Achse und um die Sonne bewegt. Einige Jahre später schrieb Galileo Galilei an Johannes Kepler, dass er selbst bereits seit vielen Jahren an das kopernikanische System glaube. Doch bisher habe er es nicht gewagt, es öffentlich zu vertreten. Und er würde dies auch in den kommenden dreißig Jahren nicht tun.
Johannes Keplers radikale Ideen machten ihn ungeeignet für die Kirchenkanzel. Maria Popova weiß: „Nach seinem Abschluss wurde er des Landes verwiesen. Daraufhin nahm er an der evangelischen Stiftsschule in Graz eine Stelle als Mathematiklehrer an.“ Er war froh darüber, denn er betrachtete sich sowohl geistig als auch körperlich als für die Wissenschaft prädestiniert. Er habe die körperliche Konstitution seiner Mutter geerbt, schrieb er später. Diese sei besser für das Studium denn für andere Lebensweisen geeignet.
Die Kirche bedient sich aller Mittel der Manipulation
Während Johannes Kepler seinen Körper als ein Instrument der Wissenschaft betrachtete, mussten andere ihren Körper als Instrumente des Aberglaubens malträtieren lassen. In Graz erlebte Johannes Kepler schauerliche Exorzismen an jungen Frauen, die angeblich von Dämonen besessen waren. Dabei handelte es sich um schreckliche, öffentliche Spektakel, veranstaltet von König und Klerus. Er sah die Geschicklichkeit, mit der die Puppenspieler das Dogma inszenierten, um das Volk zu kontrollieren.
Damals war die Kirche das, was heute die Massenmedien sind. Und sie schreckte ebenso wenig wie diese davor zurück, sich aller Mittel der Manipulation zu bedienen. Die religiöse Verfolgung eskalierte zunehmend. Sie sollte bald darauf zum Ausbruch des Dreißigjährigen Kriegs führen, des blutigsten Religionskriegs in der Geschichte Europas. Dies alles machte das Leben für Johannes Kepler in Graz unerträglich. Die Protestanten wurden gezwungen, nach katholischen Ritus zu heiraten und ihre Kinder als Katholiken taufen zu lassen. Quelle: „Findungen“ von Maria Popova
Von Hans Klumbies