Die „soziale Frage“ war eingebettet in eine Studienkultur

Es war die Literatur, di unter dem Schlagwort „soziale Frage“ bekannt wurde. Christopher Clark erläutert: „In ihr verschmolzen amtliche Berichte, in Auftrag gegebene Studien, preisgekrönte Aufsätze, Journalismus und Genretexte miteinander und beeinflussten sich gegenseitig.“ Das Ganze war eingebettet in eine „Studienkultur“ Mitte des 19. Jahrhunderts in Europa. Bei der sozialen Frage handelte es sich in Wirklichkeit jedoch um ein Bündel unzähliger Fragen zur allgemeinen Gesundheit und Gefahr der Ansteckung, zu Berufskrankheiten, zum Verlust des sozialen Zusammenhalts, zu den Auswirkungen der Industrialisierung, Verbrechen, Sexualmoral, städtischem Wohnraum, Bevölkerungswachstum, Arbeitslosigkeit und Kinderarbeit. Dazu gehörten auch Fragen zu den potenziell zersetzenden Wirkungen der wirtschaftlichen Konkurrenz, zum Einfluss der Stadt auf Leben und Einstellung ihrer Bewohner und zum vermeintlichen Rückgang der Religiosität. Christopher Clark lehrt als Professor für Neuere Europäische Geschichte am St. Catharine’s College in Cambridge. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Geschichte Preußens.

Der Kapitalismus hat die Klasse der Proletarier entstehen lassen

Welche Priorität man den Fragen einräumte und wie man sie stellte und beantwortete, hing von der politischen Linie ab, die hinter der jeweiligen Studie stand. Christopher Clark weiß: „Für Friedrich Engels basierte das Narrativ auf der Ausbeutung der einen Klasse durch eine andere.“ Eben die Konzentration des industriellen Kapitals in den Händen einer Klasse habe das Proletariat entstehen lassen, beobachtete er. Und in dem Antagonismus zwischen dem Proletariat und seinen Ausbeutern liege – davon war Friedrich Engels überzeugt – die Saat eines künftigen revolutionären Wandels.

Anders dachte der elitäre Utopist Henri Comte de Saint-Simon (1760 – 1825). Die Hauptaufgabe der modernen Wissenschaft, so hatte Saint-Simon verkündet, liege in der Gründung einer integrierten „Physiologie“, die sämtliche sozialen und sittlichen Phänomene durch die Linse eines Newtonschen Generalsystem betrachte und deute. Den Praktikern einer solchen Wissenschaft werde die Aufgabe zufallen, die Bedürfnisse einer künftigen Gesellschaft zu prophezeien und zu steuern.

Friedrich Engels verabscheute die städtische Bourgeoisie

Christopher Clark stellt fest: „Dieses Muster implizierte einen schrittweisen und friedlichen Übergang zu einer Technokratie, nicht den alles verändernden, gewaltsamen Aufstand, der Friedrich Engels vorschwebte.“ Die Akteure des Wandels waren nicht aufgebrachte Proletarier, sondern eine „industrielle Klasse“ von Hygienikern, Ingenieuren, Planern und Managern. Die Traktate, Aufsätze und Pamphlete zur sozialen Frage waren von einer moralischen Energie getrieben, von der „Übertragung der Moral auf die Wirtschaft“.

Friedrich Engels machte kein Hehl aus seiner Abscheu über die städtische Bourgeoisie, welche die Armen in ruhigen Zeiten völlig vernachlässigt habe. Für den Journalist Eugène Buret war Armut kein zufälliges Merkmal des modernen industriellen Systems, sondern dessen unweigerliche Konsequenz. Seiner Meinung nach ist sie nicht eine Gefahr für die Zivilisation, sondern ein „Phänomen der Zivilisation“. Christopher Clark ergänzt: „Die soziale Frage lebte unter der akribischen Beobachtung der realen Umstände auf, konnte bisweilen den Charakter einer moralischen Panik annehmen.“ Quelle: „Frühling der Revolution“ von Christopher Clark

Von Hans Klumbies

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