Menschen brauchen Werte und moralische Tugenden. Die antiken Philosophen haben einige Werte und moralische Qualitäten definiert. Diese beweisen die Überlegenheit der Menschen. Sie haben sie Tugenden genannt. Etymologisch betrachtet heißt das so viel wie „Vorzüglichkeiten“. Frédéric Lenoir fügt hinzu: „Im Französischen sprechen wir auch von der >Tugend< einer Pflanze oder eines Medikaments und meinen damit deren positive Wirkung.“ Michel de Montaigne und Baruch de Spinoza haben sich der der gedanklichen Tradition der Antike verpflichtet, die für Frédéric Lenoir nichts von ihrer Stichhaltigkeit verloren hat. Michel de Montaigne schreibt: „Nichts ist so schön und berechtigt, als gut und recht ein Mensch zu sein.“ Die vier Haupttugenden, auch Kardinaltugenden genannt, sind Gerechtigkeit, Mäßigung, Tapferkeit und Klugheit. Frédéric Lenoir ist Philosoph, Religionswissenschaftler, Soziologe und Schriftsteller.
Die Gerechtigkeit ist die „vollkommene Tugend“
Die Gerechtigkeit ist zweifellos die wichtigste Tugend. Aristoteles nennt sie die „vollkommene Tugend“, weil sie den Rahmen für alle anderen Tugenden bildet. Frédéric Lenoir weiß: „Man kann schließlich auch auf egoistische Weise klug, maßvoll und tapfer sein.“ Ein Tyrann kann große Tapferkeit an den Tag legen, ohne diese Tapferkeit einem humanistischen Wert zu widmen. Gerechtigkeit ist zudem ein universeller Wert. Denn kein Leben innerhalb einer Gesellschaft ist ohne Gerechtigkeit möglich.
Die Gerechtigkeit ist gleichzeitig eine persönliche moralische Tugend. Schon kleine Kinder verstehen schon sehr gut, was Gerechtigkeit in ihren beiden großen Grundzügen bedeutet. Nämlich Legalität, das, was dem Gesetz entspricht, und Angemessenheit, welche die Gleichheit aller vor dem Gesetz beinhaltet. Wenn sich ein Kind zum Beispiel nicht an die Spielregeln hält, werden die anderen Kinder sofort zu Gesetzeshütern. Und wenn sich ein Kind benachteiligt fühlt, begeht es sofort auf.
Die Gerechtigkeit entwickelt sich dank der Vernunft
Aristoteles schreibt: „Das Gerechte ist also, was den Gesetzen und der Gleichheit entspricht, das Ungerechte aber das Gesetzes- und Gleichheitswidrige.“ Moralische Gerechtigkeit im Sinne von Angemessenheit erscheint Frédéric Lenoir wichtiger als politische Gerechtigkeit, so notwendig diese für das Zusammenleben auch sein mag. Die moralische Tugend der Gerechtigkeit bewahrt Menschen davor, Kraft aufzuwenden, um ihre Mitmenschen zu beherrschen und auszubeuten.
Frédéric Lenoir stellt fest: „Stattdessen legt sie uns nahe, uns in andere hineinzuversetzen, deren Interessen zu verstehen, bevor wir handeln. Sie bringt uns dazu, die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft, die auch nach Glück streben, zu schützen.“ Frédéric Lenoir denkt, dass das menschliche Bewusstsein heutzutage auch hinreichend entwickelt ist, um die moralische Gerechtigkeit auf alle Lebewesen auszudehnen. Die Tugend der Gerechtigkeit entwickelt sich dank der Vernunft. Aber es braucht dafür auch Empathie und Mitgefühl, also die Fähigkeit, das nachzuempfinden, was andere fühlen, und sich in sie hineinzuversetzen. Quelle: „Weisheit“ von Frédéric Lenoir
Von Hans Klumbies