Wir alle sind Gefangene der Zeit

In 13 Essays zeigt Christopher Clark in seinem neuen Buch „Gefangene der Zeit“ wie sehr historische Ereignisse und Taten über die Zeiten hinweg fortwirken. An den Vorstellungen von Macht und Herrschaft hat sich bis heute wenig geändert. Die Religion, politische Macht und das Bewusstsein der Zeit sind für Christopher Clark prägende Säulen der neueren europäischen Geschichte. Die religiöse Tradition ordnet dabei das menschliche Bestreben in den größtmöglichen Kompass ein. Politische Macht verbindet Kultur, Wirtschaft und Persönlichkeit mit Entscheidungen, die eine große Anzahl von Menschen betreffen. Die Zeit schließlich wird von Narrativen, religiösen ebenso wie säkularen, konstruiert und geformt. Sie verrät, wie die Präsenz von Macht, in welcher Form auch immer, das menschliche Bewusstsein und den Sinn für Geschichte prägen. Christopher Clark lehrt als Professor für Neuere Europäische Geschichte am St. Catharine`s College in Cambridge.

Die Maßnahmen gegen COVID-19 müssen vernünftig sein

Im Vorwort macht sich Christopher Clark mit einigen Kollegen von ihm Gedanken über die COVID-19-Pandemie. Die Maßnahmen, die eine Herrschaftsgewalt anordnet, betreffen stets den Kern des Gesellschaftsvertrags zwischen den Herrschern und den Beherrschten. Wo die Gefahr offensichtlich und die Maßnahmen vernünftig und transparent waren, war die soziale Anpassung an die Schritte zur Eindämmung der Pandemie tendenziell hoch. Wo die Bevölkerung hingegen kein Vertrauen zu den Behörden hatte, konnten die Verordnungen, welche die Bewegungsfreiheit und wirtschaftliche Aktivität einschränkten, Proteste und Krawalle auslösen.

Die Gewohnheit, Seuchen eine moralische Bedeutung zuzuschreiben, ist ebenso alt wie die schriftliche Dokumentation ihrer Auswirkungen. Zudem glaubt man gerne, dass sich ansteckende Krankheiten gleichmäßig unter der menschlichen Bevölkerung ausbreiten wie Billardkugeln, die über einen Tisch rollen. Doch in Wirklichkeit ist ihr Verlauf extrem ungleichmäßig. Denn er wird so gut wie immer von Strukturen sozialer Ungleichheit beeinflusst.

Die aktuelle Epoche hat sehr schön angefangen

In dem Essay „Liebesgrüsse aus Preussen“ geht Christopher Clark auf die Rolle ein, die religiöse Lehren, Vereinigungen, Veranstaltungen, Sitten, Werte und Symbole im öffentlichen Leben spielen. Sie bilden den Kern der Kulturkämpfe des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Es handelt sich dabei um Konflikte, welche die politischen Kulturen europäischer Staaten prägten. Die jüngsten Kontroversen um Karikaturen und das Tragen eines Schleiers haben gezeigt, dass Auseinandersetzungen über die Beziehung zwischen Religion und Öffentlichkeit noch heute imstande sind, die Gemüter in Wallung zu bringen.

Im letzten Kapitel seines Buchs mit dem Titel „Unsichere Zeiten“ denkt Christopher Clark über die Unwägbarkeiten der Gegenwart nach. Denn alle scheinen sich darin einig zu sein, dass die Menschheit in unsicheren Zeiten lebt. Auch historische Ereignisse waren schon immer unberechenbar. Denn Ereignisse haben wie zu allen Zeiten, das Potenzial, noch die klügsten Pläne zunichte zu machen. Aber eines sollten die Menschen laut Christopher Clark nicht vergessen: „Die Epoche, in der wir uns befinden, hat sehr schön angefangen!“ Die sogenannten Wiedervereinigung 1990 war die zweite große staatliche Vereinigung Deutschlands seit der Gründung des Deutschen Reiches. Die neuartige Revolution zügelte sich selbst mit der Parole: „Keine Gewalt“.

Gefangene der Zeit
Geschichte und Zeitlichkeit von Nebukadnezar bis Donald Trump
Christopher Clark
Verlag: DVA
Gebundene Ausgabe: 336 Seiten, Auflage: 2020
ISBN: 978-3-421-04831-8, 26,00 Euro

Von Hans Klumbies