Der Begriff der Identität vereint drei Phänomene

Der moderne Begriff der Identität vereint drei unterschiedliche Phänomene. Das erste ist Thymos, ein universaler Aspekt der menschlichen Persönlichkeit, der sich nach Anerkennung sehnt. Das zweite ist die Trennung zwischen dem inneren und äußeren Selbst. Sie ist verbunden mit der Priorisierung des inneren Selbst gegenüber der äußeren Gesellschaft. Diese Erscheinung bildete sich erst im frühzeitlichen Europa heraus. Das dritte ist ein sich entfaltender Begriff der Würde, nachdem Anerkennung nicht bloß einem engen Zirkel, sondern allen Menschen gebührt. Francis Fukuyama stellt fest: „Durch die Erweiterung und Universalisierung der Würde wird die private Suche nach dem Selbst zu einem politischen Projekt.“ Francis Fukuyama ist einer der bedeutendsten politischen Theoretiker der Gegenwart. Sein Bestseller „Das Ende der Geschichte“ machte ihn international bekannt.

Nur der Mensch kann zwischen Gut und Böse unterscheiden

Im westlichen politischen Denken fand diese Verlagerung in der Generation nach Jean-Jacques Rousseau statt, bewirkt durch die Philosophen Immanuel Kant und besonders Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Laut Sokrates waren es hauptsächlich die Krieger der politischen Gemeinschaft, die Würde einfordern konnten. Denn sie bewiesen Mut und waren bereit, ihr Leben im Dienst der Allgemeinheit zu riskieren. Dies ist jedoch nicht die einzige Interpretation menschlicher Würde. Die Fähigkeit, moralische Entscheidungen zu treffen, steht zum Beispiel im Mittelpunkt des christlichen Konzepts der Würde.

Menschen sind in der Lage, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden. Sie können das Gute wählen, wenngleich sie es häufig nicht tun. Mit seiner Rechtfertigung für den Glauben kleidete Martin Luther diese Wahlmöglichkeit in Worte. Tiere sind nicht imstande, Gut und Böse zu erkennen, da sie instinktiv handeln. Das Vermögen der Menschen, eine Wahl zu treffen, verleiht ihnen einen höheren Status als den Tieren. Sie sind sowohl zur Güte als auch zur Sünde fähig.

Alle Menschen besitzen die identische Freiheit der Wahl

So gesehen sind alle Menschen in der christlichen Tradition gleich, da sie die identische Freiheit der Wahl besitzen. Die zentrale Rolle der moralischen Entscheidung für die menschliche Würde wurde von dem Baptistenpfarrer Martin Luther King jr. mit den Worten unterstrichen: „Ich habe einen Traum, dass meine kleinen Kinder eines Tages in einer Nation leben werden, in der man sie nicht nach ihrer Hautfarbe, sondern nach ihrem Charakter beurteilt.“

Immanuel Kant präsentierte eine weltliche Version des christlichen Verständnisses der Würde in seiner „Kritik der praktischen Vernunft“ und in anderen Schriften wie der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“. Seiner Überzeugung nach gibt es nur eine einzige menschliche Eigenschaft, die bedingungslos gut ist. Es handelt sich dabei um den guten Willen oder die Begabung zu einer angemessenen moralischen Wahl. Er sieht die moralische Wahl als Fähigkeit, abstrakten Regeln der Vernunft um ihrer selbst willen zu folgen und nicht aus instrumentellen Erwägungen, die auf die Resultate solcher Entscheidungen für das menschliche Wohlwollen oder Glück abzielen. Quelle: „Identität“ von Francis Fukuyama

Von Hans Klumbies