Mäßigung ist eine Tugend

Seine Nächsten zu respektieren ist relativ einfach und die allermeisten Menschen haben ein begründetes Interesse daran. Schwieriger ist es Lebewesen zu respektieren, die einem selbst weniger nahestehen und zu einer anderen Spezies gehören. Wer dieser Aufgabe gewachsen ist, kann sich völlig selbstlos um andere sorgen. Inwieweit hilft die Mäßigkeit dabei, wirklich menschlich zu handeln? Frédéric Lenoir antwortet: „Mäßigung ist eine Tugend, mit der wir unsere nie ganz gestillten Begierden regulieren können. Anders als ein weit verbreitetes Bild suggeriert, bedeutet Mäßigung keineswegs Askese, also den Verzicht auf Genuss.“ Schon Epikur kämpfte gegen diesen Hass auf die Sinnenfreuden. Ebenso wie Baruch de Spinoza, der die Askese heftig anprangerte: „Fürwahr nur ein finsterer und trübseliger Aberglaube verbietet, sich zu freuen.“ Frédéric Lenoir ist Philosoph, Religionswissenschaftler, Soziologe und Schriftsteller.

Qualität ist mehr wert als Quantität

Für die Weisen hingegen ist die Sinnenfreude umso stärker, je mehr sie beschränkt, eingrenzt, abgemessen wird. Alles genießen zu wollen bedeutet, gar nichts mehr zu genießen. Wie André Comte-Sponville sehr deutlich sagt, fordert die Mäßigung einen Menschen auf, so viel und so gut wie möglich zu genießen. Möglichst durch intensiveres oder bewussteres Spüren und nicht durch endloses Vermehren der Lustobjekte. Besser ist es also, Qualität vor Quantität zu setzen.

Zudem sollte jeder lernen, durch die Tugend der Mäßigung, seine Begierden im Zaum zu halten. Und wie sieht es mit der Tapferkeit aus? Frédéric Lenoir erläutert: „Die Tapferkeit – oder, wie die Philosophen der Antike sagten, die Seelenstärke – ist vor allem ein Charakterzug.“ Man kann tapfer sein, ohne irgendeine Moral zu kennen. Man kann sie aber auch ganz einfach als angeborene Fähigkeit sehen, eigene Ängste zu überwinden. Tapferkeit ist nur wirklich dann eine moralische Tugend, wenn sie Selbstüberwindung mit dem Ziel guter Lebensführung mit sich bringt. Und mehr noch, wenn sie anderen dient.

Die Klugheit sorgt für konsequentes Handeln

Mut erlaubt es einer Person, Ängste und Grenzen zu überwinden und so an Menschlichkeit zu gewinnen. Deshalb wird sie in allen Kulturen bewundert, die einen echten Helden-Kult pflegen. Der Held ist einer, der seine Ängste überwunden und seine Grenzen beiseitegeschoben hat. Er hat es gewagt, Risiken einzugehen, insbesondere im Dienst einer Sache, die über seien egoistischen Interessen hinausgeht. Und umgekehrt ist der Antiheld, der Feigling, in allen Kulturen die am meisten verachtete Person.

Nun bleibt noch die Klugheit? Frédéric Lenoir erklärt: „Als letzte Kardinaltugend ist die Klugheit in der Tat eine Tugend, die mehr von der Intelligenz als vom Willen abhängt. In diesem Sinne ist sie die Voraussetzung für alle anderen Tugenden.“ Das Wort enthält heutzutage auch oft die Konnotation „vernünftig“ und „vorsichtig“, unter völligem Ausschluss von Risiken. Das ist aber nicht die Bedeutung, die Klugheit in der Weisheitstradition hat. Die Klugheit, erklärt Aristoteles, ist eine Beschaffenheit des Verstandes, die es einem Menschen erlaubt, richtig zu überlegen, was in einer bestimmten Situation gut oder schlecht ist, und danach konsequent zu handeln. Quelle: „Weisheit“ von Frédéric Lenoir

Von Hans Klumbies