Die Kultur des Erinnerns bestimmt die Gegenwart

Der Mensch, der nicht vergessen, der Unglück, Enttäuschung, Bitterkeit, Hass nicht hinter ich lassen kann, findet keinen Zugang zur Zukunft. Ihm bleiben der Aufbruch, die Erneuerung, das Fortschreiten verschlossen. Paul Kirchhof weiß: „Die Kultur des Vergessens war jahrhundertelang die Bedingung von Friedenschlüssen.“ Nach Ende des 1. Weltkriegs vereinbarte man im Versailler Vertrag jedoch ein Erinnern. Diese Kultur des Erinnerns, der nachhaltigen Zuweisung von Verantwortung, bestimmt das Denken der Gegenwart. Wer die Vernichtungskraft moderner Waffen und Kriege vor Augen hat, wird erkennen, dass ein Krieg zur Selbstzerstörung führt, deshalb zu verhindern ist. Allerdings darf man das Erinnern der Kriegsfolgen, insbesondere die Ausgleichspflichten, nicht über Generationen hinweg verlängern. Dr. jur. Paul Kirchhof ist Seniorprofessor distinctus für Staats- und Steuerrecht an der Universität Heidelberg.

Das moderne Strafrecht folgt einem Fünfklang

Ein Frieden muss auch die ökonomischen Beziehungen in die Normalität führen. Der Mensch lässt sich in seiner Fähigkeit, sich zu erinnern und zu vergessen, keine Weisungen erteilen. Er nutzt beide Begabungen, braucht dazu aber die innere Freiheit, das eine zu tun und das andere nicht zu lassen. Er erinnert sich seiner Lebenserfahrungen, seiner Glückserlebnisse und seiner Verantwortlichkeiten. Er vergisst Schrecken, Verletzungen und Enttäuschungen. Er wählt gelassen den Weg, der ihm individuell richtig erscheint.

Ein Mensch, der nicht vergeben kann, verharrt in Vorwurf, Schuldzuweisung, Selbstgerechtigkeit und Überheblichkeit. Paul Kirchhof stellt fest: „Das moderne Strafrecht folgt dem Fünfklang Freiheit, Verantwortung, Schuld, Sühne, Vergebung.“ Dem liegt die Einsicht zugrunde, dass die großen Ideale des Rechts auch immer nur unzulängliche Menschen verwirklichen. Deshalb scheitert der Mensch immer wieder an den eigenen Maßstäben. Das Christentum vermittelt laut Paul Kirchhof ein realistisches Bild vom Menschen.

Es gibt das Recht der Begnadigung

Unter den zwölf Aposteln waren zwei Verräter, Judas und Petrus. Doch Petrus, der seinen Herrn verraten und danach „bitterlich geweint“ hat, was der Fels, auf den die Kirche gebaut worden ist. Das Grundgesetz gibt selbst dem Mörder nach 12 bis 15 Jahren Strafverbüßung eine Chance, in die Freiheit zurückzukehren. Im deutschen Strafrecht ist die Sühne, die Strafe als Vergeltung für begangenes Unrecht, nicht mehr alleiniges Strafziel. Die Strafe dient gleichermaßen der vorbeugenden Abschreckung, dem Schutz der Bürger vor weiteren Straftaten.

Heute hat die Strafe aber vor allem das Ziel, den Straftäter durch den Entziehung der Freiheit zu einem geordneten Leben hinzuführen. Man will ihn an regelmäßige Arbeit gewöhnen und ihn auf Dauer sesshaft machen. Ein letztes Entscheidungsrecht des Staates, eine verhängte Strafe für einen Täter individuell zu verringern, bietet das Recht der Begnadigung. Diese Entscheidung für eine „Gnade vor Recht“ stellt nicht den Rechtsgüterschutz, insbesondere den Schutz des Lebens, in Frage. Quelle: „Beherzte Freiheit“ von Paul Kirchhof

Von Hans Klumbies