Kunst dient unter anderem dem Vergnügen und der Unterhaltung. Kunst kann aber auch Ängste hervorrufen oder steigern, ähnlich kann sie Gefühle von Mitleid erzeugen oder verstärken und beide, Ängste und Mitleid, in gewisse Bahnen lenken. Im Fall des Vergnügens und der Unterhaltung dient Kunst der Entlastung. Je nach Intension und Rang kann Kunst zum vergnüglichen Schmunzeln anregen, gelegentlich sogar zum befreienden Lachen, dabei von den Mühen und Plagen der Arbeitswelt und des Alltags, auch von Sorgen befreien, wenn auch in der Regel nur vorübergehend. Otfried Höffe ergänzt: „In glücklichen Fällen vermag Kunst neue Lebenskraft zu schenken oder den Blick für entsprechende Möglichkeiten zu öffnen.“ Otfried Höffe ist Professor für Philosophie und lehrte in Fribourg, Zürich und Tübingen, wo er die Forschungsstelle Politische Philosophie leitet.
Die Künste bewegen sich in einem eigenen Raum der Imagination
Otfried Höffe entlarvt eine weitverbreite Ansicht als Legende. Und zwar, dass die Kunst lediglich einen schmalen Sonderbereich des Lebens ausmacht. In Wahrheit erleben die Künste etwa seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts einen derartigen Aufschwung, dass sie in der abendländischen Geschichte selten ein so große private und öffentlichen Präsenz wie seitdem und heute gehabt haben. Künstlerische Tätigkeiten, kulturelle Veranstaltungen und der Kunstbetrieb sind jedenfalls längst zu weit mehr als einem raren Bildungsgut, auch zu mehr als einer nur gelegentlich gepflegten Verschönerung des Alltags geworden.
Der größere Wert der Kunst lässt sich schon deshalb schwerlich bestreiten, weil die Künste insgesamt sich in einem eigenen Raum der Imagination bewegen, der gegen das Übergewicht von Rationalität, von Wissenschaft, Medizin und Technik sowie der Ökonomie, als einen Gegenpol zur harten Wirklichkeit die „Kunst des Möglichen“ bildet. Die bildenden Künste helfen dem Betrachter sehen zu lernen: In Portraits zum Beispiel, was ein Mensch sein kann, in Landschaftsbildern wie die friedliche oder gewalttätige oder die zivilisierte Umwelt des Menschen aussieht.
Die bildende Kunst schärft die Sehgewohnheiten
Im Surrealismus und in der abstrakten Kunst lernt der Betrachter die Welt mit anderen Augen zu sehen. In der Malerei findet sich das komplette Spektrum, vom Grauen und Schrecken, über die Einsamkeit der Eiswüste, das Elend des Absinth-Trinkens bis zur heiteren Gegenwelt zum Alltag, Bilder des Friedens und der Eintracht bis hin zur Utopie des Paradieses. Man sieht den Stolz von Aristokraten und Patriziern, die Mühen des Arbeitslebens, die Schönheit des Menschen, den Adel des Alters, die Hommage an die Frau, das Lob oder den Traum der nie endenden Virilität.
Otfried Höffe erklärt: „Edward Munch gelingt es, Unsichtbares sichtbar zu machen, etwa das Quälende der Eifersucht, den aus der Tiefe von Leib und Seele kommenden Schrei, die Angst, das Quälende.“ Auf der anderen Seite gibt es eine Poesie in Bildern. In all diesen Bereichen hilft bildende Kunst, sowohl Bilder als auch Gegenbilder zu entwerfen. Sie schärft die Sehgewohnheiten oder stellt sie infrage und fordert ein Urteil heraus. Das Analoge trifft auf Hör-, Lese- und weitere Gewohnheiten der Wahrnehmung zu. Quelle: „Kritik der Freiheit“ von Otfried Höffe
Von Hans Klumbies