Nahezu alles, was in Form neu erzeugter mentalen Bilder einem Menschen zur Verfügung steht, ist auch der inneren Aufzeichnung zugänglich. Ob es einem gefällt oder nicht. Antonio Damasio ergänzt: „Wir originalgetreu die Aufzeichnung ist, hängt zunächst einmal davon ab, wie viele Emotionen und Gefühle erzeugt wurden, während die Bilder durch den Strom unser Gedanken wanderten. Viele Bilder bleiben bestehen. Und beträchtliche Teile der Aufzeichnungen können wir später mehr oder weniger genau erneut abspielen, abrufen und rekonstruieren.“ Manchmal tritt die Erinnerung an solche alten Inhalte sogar in Konkurrenz zu neuen Informationen, die gerade erzeugt werden. Das Gedächtnis ist schon bei einzelligen Lebewesen vorhanden. Es erwächst dort aus chemischen Veränderungen. Antonio Damasio ist Professor für Neurowissenschaften, Neurologie und Psychologie an der University of Southern California und Direktor des dortigen Brain and Creative Institute.
Erinnerungen kennzeichnen den menschlichen Geist
Grundsätzlich hat das Gedächtnis bei ihnen den gleichen Zweck wie bei komplexen Organismen: Es trägt dazu bei, andere Lebewesen oder Situationen zu erkennen. Und sich ihnen entweder anzunähern oder sie zu meiden. Auch der Mensch nutzt das chemische oder Einzelzell-Gedächtnis dieses Typs auf einfache Weise und profitiert davon. Diese Art von Gedächtnis gibt es beispielsweise bei den menschlichen Immunzellen. Den gleichen allgemeinen Prinzipien unterliegen auch die umfangreichen Erinnerungen. Diese sind das Kennzeichen des menschlichen Geistes.
Der Abruf von Bildern eröffnete für den Geist und das Verhalten neue Möglichkeiten. Nachdem Bilder erlernt und abgerufen wurden, trugen sie zu folgendem bei: Lebewesen Konnten frühere Begegnungen mit Objekten und Ereignissen aller Art wiedererkennen. Und da sie die Überlegungen unterstützten, halfen sie den Organismen auch, sich auf möglichst präzise, effiziente und nützliche Weise zu verhalten. Überlegungen erfordern meist ein Wechselspiel zwischen dem, was aktuelle Bilder als „Jetzt“ anzeigen, und dem, was erinnerte Bilder als „Früher“ wiedergeben.
Die Menschen erzählen unaufhörlich Geschichten
Antonio Damasio stellt fest: „Effizientes Überlegen erfordert auch, dass man vorhersieht, was später kommt. Die Vorstellungskraft, die zur Vorhersage von Folgen notwenig ist, hängt ebenfalls von der Erinnerung an Vergangenes ab.“ Die Erinnerung unterstützt den bewussten Geist bei den Prozessen von Denken, Urteilen und Entscheiden. Oder, kurz gesagt, bei Aufgaben, vor denen ein Mensch an jedem Tag seines Lebens und in jeder Frage vom Banalen bis zum Erhabenen steht. Die Erinnerung an Bilder früherer Zeiten ist unentbehrlich für den Prozess der Fantasie. Dieser stellt seinerseits die Arena der Kreativität dar.
Erinnerte Bilder sind auch für den Aufbau ausgereifter Narrative unentbehrlich. Zum Beispiel für das Geschichtenerzählen, das eine so charakteristische Eigenschaft des menschlichen Geistes ist. Sie bedient sich sowohl aktueller als auch alter Bilder. Dazu übersetzt sie sprachlich nahezu alles, was die eigenen inneren Filmaufnahmen erzählen. Unaufhörlich erzählen Menschen Geschichten über nahezu alles in ihrem Leben. Sie handeln vorwiegend, aber nicht ausschließlich von den wichtigen Dingen. Menschen bereichern ihre Erzählungen vergnügt mit allen möglichen Voreingenommenheiten, Vorlieben und Abneigungen, die sich aus früheren Erfahrungen ergeben. Quelle: „Im Anfang war das Gefühl“ von Antonio Damasio
Von Hans Klumbies