Vor Friedrich Nietzsche gab es keine Psychologie

Friedrich Nietzsche schreibt in „Jenseits von Gut und Böse“: „Allmählich hat sich mir herausgestellt, was jede große Philosophie bisher war. Nämlich das Selbstbekenntnis ihres Urhebers und eine Art ungewollter und unvermerkter mémoires.“ Laut Christian Niemeyer ging des dem Philosophen darum, „den Denker durch den Menschen zu erläutern.“ Friedrich Nietzsche hatte die Absicht die Psychologie als „Herrin der Wissenschaften“ zu etablieren. In „Die fröhliche Wissenschaft“ heißt es: „Ein Psychologe kennt wenig so anziehende Fragen, wie die nach dem Verhältnis von Gesundheit und Philosophie.“ Eine andere Bemerkung aus „Ecce homo“ lautet: „Wer war überhaupt vor mit unter den Philosophen Psycholog und nicht viel mehr dessen Gegensatz höherer Schwindler, Idealist? Es gab vor mir noch gar keine Psychologie.“ Der Erziehungswissenschaftler und Psychologe Prof. Dr. phil. habil. Christian Niemeyer lehrte bis 2017 Sozialpädagogik an der TU Dresden.

Jeder Trieb versucht zu philosophieren

Für Friedrich Nietzsche ist der eigentliche Vater der Philosophie nicht der allerorten vorgeschützte Trieb zur Erkenntnis. Sondern jeder Trieb ist seiner Meinung nach herrschsüchtig und als solcher versucht er zu philosophieren. Christian Niemeyer weiß: „Dass das Kognitive bei der Weltauslegung nicht ohne weiteres die Oberhand gewinnt, hatte Nietzsche schon Jahre vorher geahnt.“ Friedrich Nietzsche schreibt: „Unser Wissen ist die abgeschwächteste Form des Trieblebens; deshalb gegen die starken Triebe so ohnmächtig.“

Für Friedrich Nietzsche schien es deshalb konsequent, ganze Wissenssysteme ihrerseits als mühsam dem Triebgeschehen abgewonnene Interpretationen auszulegen. Friedrich Nietzsche bemerkt: „Vielleicht ist die ganze Moral eine Ausdeutung physischer Triebe.“ Dem folgte dann die Pointe: „Ehemals fragte man: ist der Gedanke wahr? Jetzt: wie sind wir auf ihn gekommen? Welches war seine treibende Kraft?“ 1883 folgte dann der entscheidende Satz: „Der Philosoph ist nur eine Art Gelegenheit und Ermöglichung dafür, dass der Trieb einmal zum Reden kommt.“

Friedrich Nietzsche war ein „grandseigneur des Geistes“

Die psychologischen Hintergründe seiner Rousseau-Verachtung offenbarte Friedrich Nietzsche erst im „Ecce homo“. Voltaire, so heißt es hier, war ein „grandseigneur des Geistes: genau das, was ich auch bin“. Und so darf man wohl fortsetzen: Er war das, was Rousseau nicht war. Einigen Aufschluss über die Hintergründe des nietzscheanischen Interessiertseins an anderen erteilt auch das Beispiel Dostojewski. Auch hier liege bei ihm, so Nietzsche, ein „Instinkt der Verwandtschaft“ vor.

Dies will Christian Niemeyer gerne glauben, wenn er etwa an Dostojewskis Roman „Die Dämonen“ denkt. Denn dieser hat in Nietzsches Nachlass von 1887/1888 deutliche Spuren hinterlassen. „Niemals, niemals würde ich mich erschießen können …“ Das erfährt man im Nachlass von einem, der längst schon beschlossen hat, dass die Vergöttlichung des Menschen die einzig akzeptable Reaktion auf den Tod Gottes sein kann. Friedrich Nietzsche war aber auch einen Menschen oder gar Psychologen bedürftig, der ihm einen Zugang bot zur Spiegelung der Not auch seiner höchst eigenen Existenzweise. Quelle: „Auf die Schiffe, ihr Philosophen!“ von Christian Niemeyer

Von Hans Klumbies