Der Held im Bildungsroman ist immer ein Mann

Die Rehabilitierung des Romans als Literaturgattung war eine Leistung der Aufklärung, aber erst in der Kunstepoche erlangte der Roman weltliterarische Geltung und trat gleichberechtigt neben das Drama. Als Kunstepoche bezeichnete Heinrich Heine die Zeit zwischen der Französischen Revolution 1789 und dem Tod Johann Wolfgang von Goethes 1832. Johann Wolfgang von Goethes „Werther“ (1774) und Christoph Martin Wielands „Agathon“ (1766/67) stellten die ersten Versuche dar, Erfahrungen und Entwicklungen des bürgerlichen Individuums episch zu erfassen. Beide Romane waren jedoch noch weit davon entfernt, die hoch gesteckten Hoffnungen zu erfüllen, die Friedrich von Blanckenburg in seiner „Theorie des Romans“ (1774) mit dem bürgerlichen Roman verbunden hatte. „Werther“ bot nur einen höchst subjektivistischen Ausschnitt der Gesellschaft. „Agathon“ war in ein antikes Gewand gehüllt und verdeckte die bürgerliche Identitätsproblematik mehr, als dass er sie verdeutlichte.

„Wilhelm Meister“ ist das erste prominente Beispiel für den Typus des Bildungsromans

Stufen auf dem Weg zum Bildungs- und Entwicklungsroman waren die in der Nachfolge des „Werther“ stehenden Romane „Aus Eduard Allwills Papieren“ (1775) und „Woldemar“ (1779) von Friedrich Heinrich Jacobi und „Anton Reiser“ (1785 – 90) von Karl Philipp Moritz. Insbesondere „Anton Reiser“ gehört wie die Werke von Jung Stilling (Heinrich Jung Stillings Jugend, 1777) und Ulrich Bräker (Lebensgeschichte und natürliche Abenteuer des armen Mannes in Tockenburg, 1789) zur Gattung der Autobiographie, die dem Roman nach 1789 wichtige Impulse gab.

Wie „Wilhelm Meisters theatralische Sendung“ war auch „Anton Reiser“ ein Theaterroman, wobei das Theater bei Karl Philipp Moritz ein Symbol für die Flucht aus der nicht bewältigten Gegenwart ist. Mit „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ (1794 – 96) gelang es Johann Wolfgang von Goethe, die deutsche Wirklichkeit in einem repräsentativen Ausschnitt zu erfassen und die Epochenerfahrung der bürgerlichen Intelligenz ohne historische Kostümierung zu thematisieren. „Wilhelm Meister“ ist das erste prominente Beispiel für den Typus des Bildungs- und Entwicklungsromans.

Im Entwicklungsroman setzten sich die Autoren mit ihrer eigenen Sozialisation auseinander

In diesem Werk verfolgt Johann Wolfgang von Goethe in psychologischer Folgerichtigkeit und in sehr bewusster und sinnvoller Komposition den inneren und äußeren Werdegang eines Menschen von den Anfängen bis zu einer gewissen Reifung der Persönlichkeit. Zudem stellt er die Ausbildung vorhandener Anlagen in der dauernden Auseinandersetzung mit den Umwelteinflüssen in breitem kulturellem Rahmen dar. Dabei ist zu beachten, dass der Held im Bildungs- und Entwicklungsroman immer ein Mann ist.

Dies mag mit der Tatsache zusammenhängen, dass die Autoren Männer waren, die sich im Medium der neuen Gattung mit ihrer individuellen und gesellschaftlichen Sozialisation, mit ihren eigenen Wünschen und Phantasien auseinander setzten. Der wichtigste Grund liegt aber wohl darin, dass die Frau im 18. Jahrhundert eine gesellschaftlich so untergeordnete Stellung hatte, dass sie als Heldin eines Bildungs- und Entwicklungsromans undenkbar war und eine nur beiläufige Rolle in der Entwicklungsgeschichte des Mannes spielte. Quelle: „Deutsche Literaturgeschichte“ aus dem Verlag J. B. Metzler

Von Hans Klumbies