Viele Menschen fürchten sich vorm Alter

Am Ende des Lebens kann sich die Frage, ob das Leben jetzt oder später noch lebenswert ist, mit Vehemenz aufdrängen. Besonders deutlich zeigt sich dies im hohen Alter, wenn viele Fähigkeiten verloren gehen, geliebte Menschen sterben und Verlusterfahrungen großen Raum einnehmen können. Barbara Schmitz weiß: „Die Angst, kein lebenswertes Leben mehr im Alter zu haben, wenn man bettlägerig und auf die Hilfe anderer angewiesen ist, prägt die Vorstellungen vieler Menschen.“ Noch drastischer ist die Situation bei Demenz. Hier gehen nicht nur einzelne Fähigkeiten verloren, sondern die gesamte Persönlichkeit eines Menschen scheint so stark verändert, dass sie kaum noch wiederzuerkennen ist. Barbara Schmitz ist habilitierte Philosophin. Sie lehrte und forschte an den Universitäten in Basel, Oxford, Freiburg i. Br., Tromsø und Princeton. Sie lebt als Privatdozentin, Lehrbeauftragte und Gymnasiallehrerin in Basel.

Selbstmördern erscheint das Leben nicht mehr lebenswert

Ist es noch ein lebenswertes Leben, wenn der Mensch sich selbst nicht mehr erkennt? Allen genannten Situationen ist gemeinsam, dass der Umstand von Krankheit, Behinderung oder Alter die Frage nach einem lebenswerten Leben nahelegt. Anders verhält es sich mit dem Suizid. Denn hier hat man es mit Menschen zu tun, die durch die eigene Tat aus dem Leben scheiden, wenn ihnen das Leben nicht mehr lebenswert erscheint. In der Schweiz nehmen sich jedes Jahr mehr als 2.000 Menschen das Leben.

In Deutschland sind es fast 10.000 jährlich, und in jedem einzelnen Fall stellt sich für die Angehörigen später die bange Frage, warum der Mensch nicht mehr leben wollte. Gibt es Gründe, den Tod dem Leben vorzuziehen? Die Frage „Was ist ein lebenswertes Leben?“ greifen Philosophen selten direkt auf. Barbara Schmitz stellt fest: „Die philosophische Zurückhaltung gegenüber der Frage hat mehrere Gründe. Sie lässt sich zum einen noch als späte Folge des linguistic turn in der Philosophie verstehen.“

In frühen Kulturen tötete man Menschen mit Beeinträchtigung

Dabei wendet sich die Philosophie zu den Grundlagen der Sprache zu. Diese weist ab Beginn des 20. Jahrhunderts die Tendenz auf, bestimmte existentielle Fragen der Philosophie als „Scheinfragen“ zu klassifizieren und als unbeantwortbar zurückzuweisen. Wichtiger aber scheint Barbara Schmitz ein anderer Grund. Wer von einem lebenswerten Leben redet, muss – so scheint es – auch von seinem Gegenteil, also dem „lebensunwerten Leben“ reden. Damit nennt man aber einen Begriff, der mit den schlimmsten Gräueltaten der Nationalsozialisten verbunden ist.

Jeder Versuch, über das lebenswerte Leben etwas zu sagen, muss sich mit der düsteren Geschichte des Begriffs auseinandersetzen. Die Rede vom „lebensunwerten Leben“ geht historisch nicht auf die Nationalsozialisten zurück. Die Tradition von der Herabstufung bestimmter individueller Leben zu einem „lebensunwerten“ ist älter. Eine Verneinung des Lebenswertes lässt sich bereits in vielen frühen Kulturen erkennen, in denen man Menschen mit Beeinträchtigung tötete. Quelle: „Was ist ein lebenswertes Leben?“ von Barbara Schmitz

Von Hans Klumbies