Die Singularitäten prägen die Spätmoderne

Die Etablierung einer postindustriellen Ökonomie der Singularitäten und der Aufstieg der digitalen Kulturmaschine bilden das strukturelle Rückgrat der spätmodernen Gesellschaft der Singularitäten. Das spätmoderne Selbst unterscheidet sich grundlegend von jenem Sozialcharakter, der die klassische Moderne der Industriegesellschaft dominierte. Seit den 1980er Jahren sind darüber eine Reihe prominenter soziologischer Analysen veröffentlicht worden. Dazu zählt Andreas Reckwitz Ulrich Becks Arbeiten zur Selbstreflexion und zum Risikobewusstsein von Bastelbiografien. Zu nennen sind auch Anthony Giddens` Analysen zum hochmodernen Selbst als Projekt. Ebenso dazu gehört Zygmunt Bauman These der „flüssigen“, vor allem am Konsum orientierten Identitäten. Beispielhaft sind auch Richard Sennetts Arbeiten zur umfassenden Flexibilisierung spätmoderner Lebensformen und Manuel Castells These vom Netzwerk-Subjekt. Andreas Reckwitz ist Professor für Kultursoziologie an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt / Oder.

Das spätmoderne Subjekt bildet die neue Mittelklasse

Andreas Reckwitz ist jedoch der Auffassung, dass die Frage nach dem spätmodernen Lebensstil noch einmal neu ansetzen muss. Anders als häufig suggeriert wurde, ist es nicht sinnvoll, die Frage nach dem spätmodernen Lebensstil von der nach seiner primären „sozialen Trägergruppe“ zu trennen. Das spätmoderne Subjekt in seiner avanciertesten Form hängt sozialstrukturell nicht in der Luft. Sondern es bewegt sich in einem eindeutig bestimmbaren sozial-kulturellen Milieu. Ja – stärker formuliert – in einer sozial-kulturellen Klasse: der neuen Mittelklasse.

Damit ist das Milieu jener gemeint, die formal gesehen über ein hohes kulturelles Kapital von meist akademischen Bildungsabschlüssen verfügen. Sie arbeiten meist im Feld der Wissens- und Kulturökonomie. Die neue Mittelklasse ist in diesem Sinne ein Milieu von Akademikern. Sie ist eine akademische Mittelklasse oder kurz: die Akademikerklasse. Die Rede von der „Trägergruppe“ soll natürlich nicht besagen, dass nur bestimmte Teile und Milieus der Gesellschaft von Kulturalisierung und Singularisierung betroffen sind.

Die Elite macht etwa ein Drittel der Bevölkerung aus

Seine reinste Form findet der singularistische Lebensstil allerdings in der neuen Mittelklasse. Innerhalb dieser wirkt als kultureller Inkubator wiederum das kreative Milieu. Das heißt das verhältnismäßig überschaubare, aber kulturell wirkmächtige Milieu jener, die in den Berufen der „creative industries“ im engeren Sinne tätig sind. Dazu zählt Andreas Reckwitz Computer und Internet, Medien, Kunst, Design, Marketing etc. Es ist die akademische Mittelklasse, die in der Spätmoderne in grundsätzlicher und tonangebender Manier an der Singularisierung und Kulturalisierung ihres Lebensstils arbeitet.

Authentizität, Selbstverwirklichung, kulturelle Offenheit und Diversität, Lebensqualität und Kreativität sind die Parameter dieses Lebensstils. Dieser erlangt auch über die Grenzen ihrer primären Trägergruppe hinaus Strahlkraft und ist zu einer Hegemonie geworden. Das Milieu der Akademiker, der Hochschulabsolventen und Hochqualifizierten bildet seit den 1980er Jahren immer weniger eine kleine Elite. Sondern sie macht in den westlichen Gesellschaften – mit wachsender Tendenz – etwa ein Drittel der Bevölkerung aus. Sie ist die neue Mittelklasse. Quelle: „Die Gesellschaft der Singularitäten“ von Andreas Reckwitz

Von Hans Klumbies