Geschichte und Herkunft sind nicht die einzigen Aspekte, unter denen sich Menschen sind und die Gruppen, denen sie angehören, betrachten. Amartya Sen weiß: „Die Kategorien, denen wir gleichzeitig angehören, sind sehr zahlreich.“ Dabei muss man zwei Gesichtspunkte beachten. Erstens die Einsicht, dass Identitäten entschieden plural sind und dass die Wichtigkeit einer Identität nicht die Wichtigkeit anderer zunichtemachen muss. Für das Leben in einer Gesellschaft kann es extrem wichtig sein, sich auf die eine oder andere Weise mit anderen zu identifizieren. Doch war es nicht immer leicht, Gesellschaftsanalytiker dazu zu bewegen, die Identität angemessen zu berücksichtigen. So stößt man in der theoretischen Natur zur Gesellschafts- und Wirtschaftsanalyse gehäuft auf zwei Arten von Reduktionismus. Amartya Sen ist Professor für Philosophie und Ökonomie an der Harvard Universität. Im Jahr 1998 erhielt er den Nobelpreis für Ökonomie.
Ein Mensch gehört nicht nur einem Kollektiv an
Die einen könnte man „Missachtung der Identität“ nennen. Sie äußert sich darin, dass der Einfluss eines Gefühls der Identität mit anderen auf das, was man selbst schätzt und wie man sich verhält, ignoriert oder gänzlich vernachlässigt wird. Ein Teil der heutigen Wirtschaftstheorie verfährt beispielsweise so, als hätten die Menschen bei der Wahl ihrer Ziele und Prioritäten kein Gefühl der Identität mit irgendjemanden außer ihnen selbst oder als beachten sie dieses nicht.
Die reine Wirtschaftstheorie postuliert oft einen Menschen, der sich als ziemlich „vollständig“ versteht. Die andere, mit der „Missachtung der Identität“ kontrastierende Art von Reduktionismus kann man als „singuläre Zugehörigkeit“ bezeichnen. Sie äußert sich in der Annahme, der Mensch gehöre praktisch nur einem Kollektiv an, nicht mehr und nicht weniger. Amartya Sen ist anderer Ansicht: „Wir wissen natürlich, dass jeder reale Mensch in Wirklichkeit vielen verschiedenen Gruppen angehört, durch Geburt, Vereinigungen und Bündnisse.“
Den streng rationalen Akteur gibt es nicht
Jede dieser Gruppenidentitäten kann dem Menschen ein Gefühl der Zugehörigkeit und Loyalität vermitteln – und tut es zuweilen auch. Dagegen kann die Aufforderung, von allen Zugehörigkeiten Loyalitäten außen jenen abzusehen, die von einer einzigen beschränkten Identität ausgehen, sehr in die Irre führen und zu sozialen Spannungen und Gewalt beitragen. Der zielstrebige, eigensüchtige Mensch, der die Verhaltensgrundlage etlicher Wirtschaftstheorien bildet, schmückte man oft mit erhebenden Namen. Man hat ihn zum Beispiel als „homo oeconomicus“ oder als „rationalen Akteur“ bezeichnet.
Die Annahme eines zielstrebig selbstsüchtigen wirtschaftlichen Verhaltens ist natürlich auf Kritik gestoßen. Doch ein Großteil der modernen Wirtschaftstheorie verhielt sich so, als seien diese Zweifel nicht von Belang und leicht abzutun. In den letzten Jahren wurde diese Generalkritik jedoch ergänzt durch kritische Einwände. Diese stützen sich auf die Ergebnisse experimenteller Spiele und anderer Verhaltensuntersuchungen. Dabei traten gewichtige Spannungen zwischen der Annahme eines rein egoistischen Verhaltens mit singulärer Zugehörigkeit und dem tatsächlich beobachteten Verhalten von Menschen zutage. Quelle: „Die Identitätsfalle“ von Amartya Sen
Von Hans Klumbies