Ein Elektron hat keinen genau bestimmten Platz

Eine der Entdeckungen der Quantenmechanik ist der Indeterminismus. So lässt sich beispielsweise nicht mit Präzision vorhersagen, wo morgen ein Elektron erscheint. Zwischen dem einen und dem nächsten Auftauchen hat ein Elektron keinen genau bestimmten Platz. Carlo Rovelli erläutert: „Es ist, als sei es in einer Wahrscheinlichkeitswolke verteilt. Im Fachjargon reden Physiker davon, dass es sich in einer „Superposition“ befindet.“ Die Raumzeit ist ein physikalisches Objekt wie ein Elektron. Sie schwingt ebenfalls. Auch sie kann sich in einer Superposition unterschiedlicher Konfigurationen befinden. Den Aufbau der sich ausdehnenden Zeit stellt sich Carlo Rovelli zum Beispiel als eine Überlagerung verschiedener Raumzeiten vor. Damit wird auch die Unterscheidung zwischen Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft fließend, also unbestimmt. Carlo Rovelli ist seit dem Jahr 2000 Professor für Physik in Marseille.

Die Unterschiede in der Zeit können verschwimmen

Wie ein Teilchen diffus im Raum verteilt sein kann, so kann auch der Unterschiede zwischen Vergangenheit und Zukunft verschwimmen. Ein Ereignis kann gleichzeitig vor und nach einem anderen stattfinden. „Fluktuation“ heißt für Carlo Rovelli nicht, dass das Geschehen niemals determiniert ist, sondern dass es nur in manchen Augenblicken und auf unvorhersehbare Weise bestimmt ist. Die Unbestimmtheit verschwindet, wenn eine Größe mit etwas anderem in Wechselwirkung tritt.

Bei der Wechselwirkung materialisiert sich ein Elektron an einem bestimmten Punkt. Es schlägt beispielsweise auf einem Bildschirm auf, wird von einem Teilchendetektor erfasst und kollidiert mit einem Photon. Es nimmt einen konkreten Ort ein. Aber dieses sich Konkretisieren des Elektrons hat einen seltsamen Aspekt: Das Elektron ist nur bezogen auf die physikalischen Objekte konkret, mit denen es wechselwirkt. Mit Bezug auf alle anderen verbreitet die Wechselwirkung wie bei einer Ansteckung nur Indeterminismus.

Die Zeit hat sich in einem Beziehungsgeflecht aufgelöst

Die Konkretheit besteht nur relativ zu einem physikalischen System. Dies, so glaubt Carlo Rovelli, ist die ganz grundlegende Entdeckung der Quantenmechanik. Es ist schwer nachvollziehbar, dass sich ein Elektron so bizarr verhält. Noch schwerer zu verdauen ist der Gedanke, dass sich auch Raum und Zeit so verhalten. Dennoch ist das offensichtlich die Quantenwelt, in der wir leben. Das physikalische Substrat, das die Dauer und die Zeitintervalle bestimmt – das Gravitationsfeld –, gehorcht nicht nur einer Dynamik, die von Massen beeinflusst wird.

Es ist auch eine gequantelte Entität, die keine festgelegten Werte hat, solange sie nicht mit etwas wechselwirkt. Wenn sie dies tut, sind die Zeitintervalle granular und nur auf etwas Bestimmtes festgelegt, während sie für das übrige Universum indeterminiert bleiben. Die Zeit hat sich in einem Beziehungsgeflecht aufgelöst, das nicht einmal mehr eine zusammenhängende Leinwand bildet. Die Bilder der schwingenden, sich überlagernden Raumzeiten, sind eine vage Vision. Aber die Beste, die der Physik von der feinst gekörnten Welt noch übrigbleibt. Quelle: „Die Ordnung der Zeit“ von Carlo Rovelli

Von Hans Klumbies