Reinhard Haller kennt die Macht der Kränkung

Besonders intensiv hat sich Reinhard Haller die Macht der Kränkung in seiner Tätigkeit als Kriminalpsychiater und Gerichtsgutachter gezeigt. Bei zahlreichen Mördern, Räubern oder Attentätern war seiner Meinung nach kein anderes Motiv als tiefe Gekränktheit zu finden: „Viele große Verbrecher erwiesen sich im Grunde als gekränkte Genies.“ In seinem Buch „Die Macht der Kränkung“ erklärt der Autor, dass Kränkungen oft die Wurzel kriminellen Verhaltens sind, von impulsiven Stehlhandlung und Brandstiftungen bis zu Beziehungsdelikten und Familientragödien reichend. In neuerer Zeit bilden Kränkungen und Demütigungen sogar die Basis des modernen Terrors. Der Anfang eines Streits, eines Konflikts oder einer Krise ist in der Regel auf einen Kränkung zurückzuführen. Kränkungen trüben das Lebensglück, lösen mannigfaches Leid aus, stoßen den Menschen in Bitternis und bestimmen viele Schicksale. Reinhard Haller ist Chefarzt einer psychiatrisch-psychotherapeutischen Klinik mit dem Schwerpunkt Abhängigkeitserkrankungen.

Kränkungen sind destruktive Energien

In seinem Buch verfolgt Reinhard Haller drei Thesen. Die erste lautet: Kränkungen sind destruktive Energien, die fast jedem menschlichen Übel, von Krisen und psychosomatischen Krankheiten über Partnerschafts- und Berufskonflikte bis zu Terror und Krieg reichend, zugrunde liegen. Zweitens gilt: Kränkungen sind nicht nur ein komplexe Emotion, sondern eine Interaktion zwischen Kränkungsabsender, Kränkungsbotschaft und Kränkungsempfänger bzw. -adressaten.

Die dritte These lautet: Kränkungen bieten die Chance, sich selbst und die Mitmenschen besser kennenzulernen sowie die vielleicht wichtigste menschliche Emotion, das Empathievermögen zu fördern. Wenn viele Menschen heute über eine kranke Gesellschaft klagen, übersehen sie, dass sie nicht nur kalt, egoistisch oder unsolidarisch, sondern vor allem gekränkt ist, wahrscheinlich mehr als in anderen Phasen der Geschichte. Dafür gibt es zahlreiche Gründe, etwa die in Zeiten der Globalisierung stärker gewordene Anspruchshaltung.

Kränkungen sind universell und zeitlos

Dazu kommt die steigende Zahl an hypersensiblen Charakteren oder die Etablierung des gesellschaftlichen Narzissmus, welcher unweigerlich mit starker Kränkbarkeit verbunden ist. Noch nie aber wurden Geringschätzung, Entwertung, Enttäuschung und Kränkung so sehr verdrängt und tabuisiert wie in der modernen Gegenwart. Das Thema der Kränkung passt nicht zum Bild des bestens funktionierenden Menschen und schon gar nicht in ein durchorganisiertes Leben.

Kränkungen sind universell und zeitlos. Nichts außer der Liebe, des großen Gegenspielers, ist so menschlich. Nichts anderes ist so tief verankert, nichts so belastend, nichts so unvermeidbar, nichts so schicksalsbestimmend. Wie kein anderes Gefühl formen sie die Persönlichkeit des Menschen, beeinflussen das Verhalten und prägen sein Wesen. Reinhard Haller weiß: „Nie werden wir Kränkungen verhindern und ihre Wirkkraft unterbinden können, mögen wir sie noch so sehr ignorieren, abwehren oder verdrängen.“ Kränken und Gekränktsein zählen zu jenen wenigen Eigenschaften, die den Menschen von Computern und humanoiden Robotern unterscheiden. Sie wahren und fördern sogar seine Empathie.

Die Macht der Kränkung
Reinhard Haller
Verlag: Ecowin
Gebundene Ausgabe: 248 Seiten, Auflage 8: 2017
ISBN: 978-3-7110-0078-1, 21,95 Euro

Von Hans Klumbies