Deutschland erholte sich nach dem Chaosjahr 1923 relativ rasch

Durch den Vertrag von Versailles hatte Deutschland 13 Prozent seines Territoriums mit rund zehn Prozent seiner Bevölkerung verloren, darunter Teile des oberschlesischen Industriegebiets. Deutschland büßte 80 Prozent seiner Vorkommen an Eisenerz, fast ein Viertel der Steinkohle und 17 Prozent seiner Anbauflächen für Getreide ein. Hinzu kamen die Reparationszahlungen in erheblicher, zunächst nicht genau bezifferter Höhe. Ulrich Herbert nennt Zahlen: „De facto waren es jährlich etwa 1,5 Milliarden Mark.“ Rechnet man noch den Verlust von Exportmärkten und die Auswirkungen der inneren Unruhen sowie der Hyperinflation hinzu, ist es umso überraschender, dass sich die deutsche Wirtschaft nach dem Chaosjahr von 1923 relativ rasch erholen und beinahe an die Erfolge des Vorkriegsbooms anschließen konnte. Ulrich Herbert zählt zu den renommiertesten Zeithistorikern der Gegenwart. Er lehrt als Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg.

Aus den USA strömten 13 Milliarden Mark nach Deutschland

Das lag nicht zuletzt daran, dass die deutschen Industrieanlagen während des Krieges, anders als die französischen oder belgischen, nicht zerstört, sondern im Gegenteil durch die anhaltenden Rüstungsaufträge noch ausgedehnt und teilweise modernisiert worden waren. Ulrich Herbert stellt fest: „Die Industriewirtschaft verfügte daher über enorme Kapazitäten und Leistungskraft, wenn nur die notwendigen Voraussetzungen erfüllt waren. Dazu zählten neben der Öffnung der internationalen, vor allem der europäischen Märkte in erster Linie ausreichende Investitionsmittel.“

Das Finanzvolumen deutscher Investoren allein war dafür jedoch nicht ausreichend. Durch die sehr hohen Zinssätze, welche die unter der Aufsicht der Westmächte stehende Reichsbank festlegte, wurde aber Deutschland schnell zum bevorzugten Platz für ausländische, insbesondere amerikanische Anleger, die hier doppelt so hohe Zinserträge erreichten wie in den USA. Die auf diese Weise aus den Vereinigten Staaten nach Deutschland strömenden etwa 13 Milliarden Mark waren die Grundlage für den nun einsetzenden Aufschwung.

Zwischen 1924 und 1929 betrug das Wirtschaftswachstum 4 %

Bereits fünf Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs erreichte die deutsche Wirtschaft wieder das Niveau von 1913. Die Industrieproduktion wuchs zwischen 1924 und 1929 jährlich im Durchschnitt um 7,9 Prozent, die Gesamtwirtschaft um etwa 4 Prozent. Auch die Exportquote hatte bis 1929 den Vorkriegsstand wieder erreicht, das betraf insbesondere die Industrieexporte. Die Bruttolöhne lagen 1929 etwa um 30 Prozent höher als 1913, die Arbeitsproduktivität hatte sich im gleichen Zeitraum um nahezu 100 Prozent gesteigert.

Ulrich Herbert betont: „In einigen wichtigen Branchen war die deutsche Industrie weltweit führend; vor allem der Maschinenbau, die Stahlindustrie, der Steinkohlebergbau, die chemische und die elektrotechnische Industrie.“ In anderen Bereichen wurde der wirtschaftliche Aufschwung hingegen weniger spürbar: Die Arbeitslosigkeit, vor 1914 ein ephemeres Problem, blieb durchgehend hoch und lag zwischen 7 und 9 Prozent. Im Jahre 1926, als die Konjunktur eine kurze, aber heftige Zwischenkrise durchlief, erreichte sie fast 17 Prozent. Quelle: „Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert“ von Ulrich Herbert

Von Hans Klumbies