Verzeihen ist grundlegend für das menschliche Zusammenleben. In ihrem Buch „Verzeihen“ beantwortet die Philosophin Svenja Flaßpöhler unter anderem die Frage, wie Menschen, die schuldig geworden sind, der Spirale aus Schuld und Sühne entkommen können. Außerdem lotet sie mittels philosophischer Gedankengänge die Grenzen des Verzeihbaren aus. Wer verzeiht, beschuldigt nicht länger andere für das eigene Leid, fordert keine Rache oder ein Urteil vor Gericht, sondern lässt die Sache auf sich beruhen. Svenja Flaßpöhler ergründet, indem sie Opfer wie Täter zu Wort kommen lässt, unter welchen Bedingungen ein Schuldenschnitt im moralischen Sinne gelingen kann. Svenja Flaßpöhler schreibt, dass ihr Buch ein Versuch sei, das Verzeihen zu verstehen: „Wer verzeiht, handelt weder gerecht noch ökonomisch, noch logisch. Verzeihen bedeutet dem Wort nach: Verzicht auf Vergeltung. Verzicht auf Wiedergutmachung.“ Svenja Flaßpöhler ist promovierte Philosophin und stellvertretende Chefredakteurin des „Philosophie Magazin“.
Beim Verzeihen bleibt die Schuld des Täters bestehen
Der Verzeihende fordert nicht, was ihm eigentlich zusteht. Das ewige Bezichtigen eines Anderen findet mit dem Verzeihen ein Ende. Damit vollzieht sich das Verzeihen jenseits des Gesetzes, das das Leben der Menschen fundamental bestimmt. Svenja Flaßpöhler erklärt: „Dieses Gesetz lautet: Wer Schuld hat, muss zahlen. Je höher die Schuld ist, desto höher auch der Betrag.“ Das Fatale an der moralischen Schuld ist, dass sie nicht auf dieselbe Weise abgeleistet werden kann wie rechtliche oder ökonomische Schuld.
Je schwerer die moralische Schuld wiegt, desto weniger scheint sie vom Schuldigen beglichen werden zu können. Das Christentum hat für dieses Problem das Ritual der Beichte erfunden. Durch die Absolution löst sich der Täter von der Schuld. Menschen können Schuld nicht wie von Zauberhand abnehmen, sie können sich nur zu ihr verhalten. Der Begriff des Verzeihens trägt dieser Einschränkung Rechnung: Die Schuld des Täters bleibt bestehen. Das Opfer verzichtet lediglich auf ihre Begleichung.
Nur das Unverzeihbare ruft nach Verzeihung
Die außerordentliche Leistung des Verzeihenden besteht darin, sich eines Impulses, eines Affektes, eines emotionalen Automatismus zu erwehren: Anstatt sich dem Durst nach Rache oder dem verbitterten Wunsch nach Wiedergutmachung hinzugeben, übt er sich in Zurückhaltung. Svenja Flaßpöhler findet dafür noch eine andere Formulierung: „Der Verzicht auf die Lust, erfahrenes Leid heimzuzahlen beziehungsweise in Rechnung zu stellen, ist sein Geschenk, seine Gabe.“ An diesem Punkt berührten sich die Begriffe des Vergebens und des Verzeihens.
Damit sich die Frage des Verzeihens ernsthaft und in aller Abgründigkeit stellt, muss die Schuld so schwer wiegen, dass sie – rational betrachtet – gerade nicht verziehen werden kann. Svenja Flaßpöhler stellt fest: „Nur das Unverzeihbare ruft nach Verzeihung.“ Ein bedingungsloses Verzeihen widersetzt sich dem Verstand, weil es, dem Anspruch nach, auch die schlimmsten Verbrechen entschuldigt und dabei auf Seiten des Täters noch nicht einmal Reue verlangt. Mit juristischer Gerechtigkeit hat das Verzeihen folglich nicht das Geringste zu tun.
Verzeihen
Vom Umgang mit Schuld
Svenja Flaßpöhler
Verlag: DVA
Gebundene Ausgabe: 222 Seiten, Auflage 2: 2016
ISBN: 978-3-421-04463-1, 17,99 Euro
Von Hans Klumbies