Selbstüberwindung prägt das Einzeln sein

Selbstüberwindung galt früher als ein Weg, zu sich selbst zu kommen. Für die Menschen, die Rüdiger Safranski in seinem neuen Buch „Einzeln sein“ vorstellt, ist eine solche Selbstüberwindung immer auch im Spiel beim Versuch, ein Einzelner zu sein und darüber nachzudenken. Die Renaissance gilt als die Epoche, in der der Sinn für den Einzelnen neu erwachte. Der Individualismus der Renaissance bedeutet, dass der Einzelne ermuntert oder auch gezwungen wird, sich seiner selbst bewusst zu werden. Denn die traditionellen Bindungen, Gesetze und Glaubenswelten verlieren in dieser Zeit ihre Autorität. Das Selbstbewusstsein derer, die sich als unverwechselbare Einzelne fühlen, ist groß. Sie wissen und genießen es, dass sie sich von anderen unterscheiden. Rüdiger Safranski ist seit 1986 freier Autor. Für sein in 26 Sprachen übersetztes Werk wurde er u.a. mit dem Thomas-Mann-Preis, mit dem Ludwig-Börne-Preis und dem Deutschen Nationalpreis ausgezeichnet.

Ein Einzelner zu sein ist manchmal schwer zu ertragen

Seine philosophischen Betrachtungen über das „Einzeln sein“ beginnt Rüdiger Safranski bei Michel de Montaigne und kommt dabei über Rousseau, Diderot, Kierkegaard, Stirner und Thoreau bis zur existenziellen Philosophie des 20. Jahrhunderts. Dabei nähert er sich immer aus anderen Richtungen der Frage, wie weit es ein Mensch erträgt, ein Einzelner zu sein. Wie man es zum Beispiel schafft, in guter Gesellschaft zu sein, wenn man bei sich ist, hat Montaigne, dieses Genie des Denkens auf eigene Faust, glanzvoll vorgeführt.

Bei Montaigne war der Selbstbezug noch defensiv, es ging darum sich von der öffentlichen Unvernunft nicht anstecken zu lassen. Mit Rousseau aber geht der Einzelne zum Angriff über. Rüdiger Safranski betont: „Ein ungeheures Selbstbewusstsein ist hier am Werk, auch ein starkes Gefühl der schöpferischen Freiheit.“ Jedoch hatte Rousseau dabei ein Problem: Von den Freiheiten der anderen fühlte er sich verfolgt. Daher suchte er Zuflucht vor ihnen in der Einsamkeit des reinen Selbstseins.

Im Existenzialismus kommt es nur auf den Einzelnen an

Für Kierkegaard, Stirner und Thoreau bedeutet die Gesellschaft eine Macht, die tief ins Innere hineinreicht und doch nicht zu einem gehört und vom Wesentlichen abhält. Wer sich ausdauernd in der Gesellschaft bewegt, der „hat lange nichts mehr von sich gehört“, sagte Thoreau. Er brachte damit das Unbehagen, das alle drei empfanden auf den Punkt. In der bürgerlichen Gesellschaft gilt das Geld, die Nützlichkeit und Verwertbarkeit. Die drei Denker befinden sich mit ihren Ideen in Opposition zu den bürgerlichen Denk- und Lebensformen. Aus der Perspektive der bürgerlichen Mitte gelten sie darum als Außenseiter, als Extremisten.

Es gibt so viele Arten, die Einzelheit zu erfahren, sie ausdrücklich zu bedenken und etwas daraus zu machen. In seinem Buch „Einzeln sein“ stellt Rüdiger Safranski einige vor, die zu denken geben. Der Existenzialismus war der Versuch, den Einzelnen zu ermuntern, zum Schicksal für sich selbst zu werden. Das war gewiss ein Höhepunkt des individualistischen Denkens im 20. Jahrhundert. Als Zeitgenossen der kollektiven Katastrophen dieses Jahrhunderts waren die Existenzialisten inspiriert vom Geist des „trotz allem“. Auf den Einzelnen kommt es an, auch wenn sonst wenig dafür spricht.

Einzeln sein
Eine philosophische Herausforderung
Rüdiger Safranski
Verlag: Hanser
Gebundene Ausgabe: 284 Seiten, Auflage: 2021
ISBN: 978-3-446-25671-2, 26,00 Euro

Von Hans Klumbies