Das Internet kennt keine Gnade

Viele Bürger glauben, dass es heute ein bisschen riskanter ist als früher, sich in der Öffentlichkeit zu Wort zu melden. Roger de Weck stellt fest: „Denn das Netz kennt keine Gnade und alle Willkür. Es wechselt nahtlos von der Kritik zur Fertigmache, ganz ohne Proportionen skandaliert es Belangloses, während es Belangvolles ignoriert.“ Der öffentliche Raum kann sich in einen Strafraum verwandeln. Und als die wüstesten, gemeingefährlichsten haben sich rechte Shitstorms erwiesen. Vor allem sind Kulturkämpfer zugleich empfindlich und unerbittlich. Althergebrachte Verteilungskämpfer sind hat im Nehmen, hart im Geben. Mitten in einer Tarifrunde sparen Arbeitgeber und Gewerkschafter nicht mit Schelte und Kraftausdrücken. Stets sind sie dabei aber auf dem Weg zum Kompromiss. Roger de Weck ist ein Schweizer Publizist und Ökonom. Zudem lehrt er als Gastprofessor am College of Europe in Brügge.

Prägendes Denken führt zu politischer Herrschaft

Bei Kulturkämpfern geht es jedoch ums Ganze – Brexit ja oder nein, wo war da der Mittelweg? Für Monika Maron lief Angela Merkels Flüchtlingspolitik des Jahres 2015 auf „kollektiven Selbstmord“ hinaus. Gleichzeitig hält es die Essayistin für grünen Irrwitz, dass „uns täglich mit dem Weltuntergang gedroht wird“. Kulturkämpferische Auseinandersetzungen dienen weniger der differenzierten Erkenntnis als vielmehr dem Kampf um eine „kulturelle Hegemonie“.

Diese sah der Postmarxist Antonio Gramsci als Voraussetzung für Machtverschiebungen an. Wer in einer Gesellschaft das herrschende Denken präge, dem falle schließlich die politische Herrschaft zu. Dies schrieb der italienische Philosoph und Häftling des Diktators Benito Mussolini in den „Gefängnisheften“, die er zwischen 1927 und 1935 verfasste. In solcher Machtlogik sind selbst fundierte, empirisch erhärtete Gegenmeinungen kein Anreiz nachzudenken. Sondern sie sind ein Ansporn, gegen den Widersacher nachzulegen.

Schwachen wird oft alle Schuld in die Schuhe geschoben

Roger de Weck betont: „Doch gehört zur Meinungsfreiheit die Gegenmeinungsfreiheit: Das Pendant zur freien Rede ist die freie Widerrede.“ Wer über Meinungskorridore klagt, sagt implizit, seine Meinung werde von den vielen Kritikern zu schnell, zu hart und zu wenig argumentativ kritisiert. Die heftige Debatte, die an sich ein Beweis für die Meinungsfreiheit ist, gilt dann als Beweis faktischer Unfreiheit. Intellektuelle „wider den Mainstream“ sehen sich alsbald als Opfer der politischen Korrektheit.

„Blaming the victim“ heißt William Ryans Klassiker aus dem Jahr 1971. In diesem arbeitet der Psychologe präzise heraus, wie man zur Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung den Schwachen alle Schuld in die Schuhe schiebt. Antikorrekte Intellektuelle wie Jörg Baberowski unterstellen heute vielen Opfern, sie wollten Opfer sein. „Wer laut ruft und die Rhetorik des Beleidigten gut beherrscht, erzielt einen Machtgewinn, ohne sich anstrengen zu müssen“, höhnte der begabte Historiker und weniger talentierte Polemiker an der Humboldt-Universität zu Berlin. Quelle: „Die Kraft der Demokratie“ von Roger de Weck

Von Hans Klumbies