Das Ziel der Ethik ist nicht die größtmögliche Lebenssicherheit. Richard David Precht stellt fest: „Es ist die Chance auf ein erfülltes Leben für möglichst viele Menschen. Normen sollen uns dazu dienen. Keinesfalls ist es ihr Sinn, dass wir ihnen dienen.“ Und wenn man sich über Normverstöße aufregt, so ist es doch gut, dass es sie gibt. Wer wollte in einem Land leben, in dem jeder Verstoß bemerkt und geahndet wird? Jeder moralische Grundsatz wird zu einem Gräuel, wenn er uneingeschränkt zur starren Regel erhoben wird. Immer ehrlich sein, immer gerecht, immer fair, immer mitfühlend, immer großzügig, immer dankbar und so weiter. Wer möchte so sein? Ist dies tatsächlich ein erfülltes Leben? Der Philosoph, Publizist und Autor Richard David Precht zählt zu den profiliertesten Intellektuellen im deutschsprachigen Raum.
Im digitalen Zeitalter gibt es viele Gefahren
Die Technik der Zukunft verspricht, analoge Fragen digital zu beantworten. Sie will die Menschen in eine Sicherheitsmatrix einspinnen. Dabei ist Skepsis angebracht. Denn Kriminalität um den Preis der Unfreiheit zu besiegen ist ein Pyrrhussieg. Zu viele davon, und man lebt nicht mehr in einer selbstbestimmten Gesellschaft. Manche Menschen tun nur das Gute, weil sie sich permanent selbst „tracken“ und „nudgen“ lassen. Sie sind jedoch nicht sittlich autonom, sondern abhängige Junkies.
Ganz zu schweigen von der unheimlichen Macht derjenigen, die über gigantische Datenmengen verfügen. Sie wissen oft mehr über einen Menschen, seine Motivationen, Bedürfnisse und etwaige Handlungen als dieser selbst. Richard David Precht warnt: „Wer eine humane Utopie des digitalen Zeitalters zeichnen will, muss diese Gefahr ernst nehmen und bewusst machen.“ Wie lange noch dulden die Hohepriester der Effizienz und der Optimierung die Unordnung und das Unaufgeräumte in der menschlichen Lebenswelt?
Das wirkliche Leben sorgt für Geschichten
Denn das wirkliche Leben ist bunt und sperrig. Es macht es anstrengend, aber zugleich interessant. Und es sorgt für Geschichten die keine Pläne sind. „Eine Geschichte ist das, was sich ereignet, wenn etwas dazwischenkommt“, definierte einst der Philosoph Odo Marquard. Ein Plan hingegen geht dann auf, wenn nichts dazwischenkommt. Viele Menschen folgen inzwischen dem Navigationssystem auf ihrem Smartphone. Deshalb müssen sie nicht mehr nach dem Weg fragen und können so auch niemanden mehr kennenlernen.
Richard David Precht fragt: „Doch wenn nichts dazwischenkommen soll, was ist dann noch Leben?“ Auf dem Weg zu einer humanen Utopie muss man dieser Gefahr ins Auge sehen. Wenn die Menschen nicht aufpassen, mündet der gegenwärtig eingeschlagene Pfad in den kristallinen Kältetod der Perfektion. Dabei schaffen sie, geradezu zwangsläufig und ohne bösen Willen, die Politik ab. Es könnte dabei eine perfekt kontrollierte Gesellschaft entstehen, in der Opposition nicht nur unmöglich, sondern vielleicht undenkbar ist. Quelle: „Jäger, Hirten, Kritiker“ von Richard David Precht
Von Hans Klumbies