Bei Abhängigkeit durch inneren Zwang spricht man von Hörigkeit

Wenn es einem Menschen nicht gelingt, das Wollen durch das Urteilen zu lenken, ungeliebte Affekte unter seiner Kontrolle zu behalten und über die innere Zensur der eigene Regisseur zu sein, wird er sich ohnmächtig fühlen. Manchmal spricht man in einem solchen Fall auch von Demütigung. Aber zum Beispiel die Ohnmacht eines Süchtigen ist nicht von sich aus schon eine Demütigung. Denn es gibt hier keinen Akteur, er ihn die Ohnmacht genussvoll spüren lässt. Peter Bieri erläutert: „Zu einer Demütigung wird eine innere Unfreiheit erst dadurch, dass sie uns von jemandem abhängig macht. Nicht nur, dass wir gegen das zwanghafte Bedürfnis nicht ankommen – wir hängen auch noch vom Willen und der Willkür desjenigen ab, der es befriedigen kann.“ Peter Bieri, geboren 1944 in Bern, studierte Philosophie und Klassische Philologie und lehrte als Professor für Philosophie in Bielefeld, Marburg und an der Freien Universität Berlin.

Hörige sind stets erpressbar und zahlen beinahe jeden Preis

Die Demütigung eines Menschen wird vollständig, wenn man seine Abhängigkeit ausnützt und sich daran ergötzt. Abhängigkeit durch inneren Zwang nennt Peter Bieri Hörigkeit. Ein Individuum braucht einen anderen, um sein Bedürfnis, gegen das es vergeblich ankämpft, zu befriedigen. Es ist für Peter Bieri eine äußere Versklavung durch eine innere Versklavung. Peter Bieri erklärt: „Der andere führt über mich Regie wie über eine Marionette, indem er mit den abgelehnten, doch nie besiegten Impulsen spielt.“

Dazu kommt, dass der Hörige stets erpressbar ist. Wie hoch der Preis auch sein wird, er kann es sich laut Peter Bieri nicht leisten, den anderen zum Teufel zu schicken. Man kann einem Menschen in seiner Funktion hörig sein, zum Beispiel einem Drogendealer, oder die Hörigkeit kann auch einer bestimmten Person gelten. Dann ist es sie und nur sie, der die übermächtige und zwanghafte Begierde gilt. Im Volksmund heißt es dann: Jemand ist einer anderen Person verfallen. Sie kann mit ihr machen was sie will.

Die Hörigkeit einem Führer gegenüber ist besonders heimtückisch

Die innere Versklavung des Hörigen verleiht der anderen Person grenzenlose Macht über den Betroffenen, und darin liegt dann auch der Verlust seiner Würde. Meistens lassen sie alle Demütigungen mit sich geschehen und genießen sie zum Teil auch noch. Manche Menschen erleben eine Hörigkeit, bei der ein Konflikt zwischen innerer Zensur und dem unbeherrschbaren Impuls spürbar bleibt. Peter Bieri erläutert: „Es gibt den aufflackernden Kampf gegen den Impuls, und in diesem Kampf liegt ein Rest von Würde. Solange der Kampf dauert, erlischt sie nicht ganz.“

In einer anderen, umfassenden Form von Hörigkeit geht die Würde laut Peter Bieri ganz verloren. Die zensierte Instanz ist hier in eine Autorität der Außenwelt verlagert worden: den Führer. Diese Hörigkeit ist besonders heimtückisch und besteht darin, dass man in den meisten Fällen die Verlagerung gar nicht bemerkt. Die Person hat sich dem Führer unterworfen. Es gibt keinen inneren Konflikt mehr und nicht einmal mehr die Möglichkeit dazu. Der Führer muss in dem Hörigen keine Zensur mehr brechen, er folgt ihm freiwillig als dem, der die totale Autorität hat.

Von Hans Klumbies