Freiheit gewährt niemals Herrschaft über andere

Freiheit ereignet sich stets im Rahmen der verbindlichen Gesetze. Paul Kirchhof erläutert: „Das Gesetz schafft Frieden und eine Lebensordnung, in der allein Freiheit möglich ist. Es bindet den Freien in Verboten und Geboten, die sprachlich verbindlich bestimmt sind und damit Grenzen der Freiheitsbeschränkung benennen. Diese sind auch vom Staat zu achten.“ Das Gesetz regelt, wann der Mensch frei und wann er gebunden ist. Du sollst nicht töten. Du musst mit sechs Jahren die Schule besuchen. Du musst Steuern zahlen. Freiheit ist nicht die Beliebigkeit, die den Mitmenschen den eigenen Willen aufdrängt, sondern ein Recht, das die selbstbestimmte Entfaltung des eigenen Lebens in einer Gemeinschaft des Friedens und der Freiheit für jedermann erlaubt und erwartet. Dr. jur. Paul Kirchhof ist Seniorprofessor distinctus für Staats- und Steuerrecht an der Universität Heidelberg. Als Richter des Bundesverfassungsgerichts hat er an zahlreichen, für die Entwicklung der Rechtskultur der Bundesrepublik Deutschland wesentlichen Entscheidungen mitgewirkt.

Der Staat verzichtet oft auf eine verbindliche Regel

Freiheit gewährt niemals Herrschaft über andere. Doch der Staat spricht den Bürgern nicht nur in einer verbindlichen Regel an, die dem Adressaten in der Sprache der Vernunft, bewusst und rechtlich zugemessen, eine Anordnung erteilt. Er verzichtet oft auf die verbindliche Regel und wählt das auf Kooperation angelegte Instrument von Anreiz und Verlockung, gibt menschlichen Erwerbsstreben einen Impuls. Während der Verfassungsstaat herkömmlich den Freiheitsrahmen setzt und die Bürger ihre Freiheitsmotive entwickeln, regiert der Staat nur über Motive.

Der Staat schafft auch Anreize, wenn er Institutionen schafft und diese zur Nutzung anbietet. Staat und mächtige Interessengruppen setzen auch zunehmend „Mechanismen“ ins Werk, durch die Menschengruppen gesteuert werden sollen, in die der Einzelne nahezu wehrlos eingegliedert ist. Der Mensch ist nicht mehr Einzelperson, sondern Rechengröße in einer Gruppe der Konsumenten, der Produzenten, des Patientengutes, des Bildungspotentials, einer Alterskohorte oder des Finanzmarkt

Der Algorithmus über nimmt die Funktion des Gesetzes

Die Aufmerksamkeit gilt der Steuerungskraft des Steuernden und der Steuerbarkeit des betroffenen Kollektivs, nicht dem Rechtssubjekt und seiner Belastbarkeit. Paul Kirchhof betont: „Insbesondere ökonomisches Denken steuert Wirkungszusammenhänge nach Effizienz. Globalsteuerung und Wirtschaftslenkung geben Impulse, denen jedermann folgt, die nicht individuell zugemessen werden.“ Werbung beispielsweise verheißt, menschliches Verhalten auf den Weg des Auftraggebers zu lenken.

Eine technische Datenerhebung erkundet den Bedarf und befriedigt diesen festgestellten, vom Betroffenen nicht bekundeten Bedarf. Der Algorithmus übernimmt die Funktion des Gesetzes. Er beansprucht, aus Wissen und Erfahrung die „richtige Lösung“ entwickelt zu haben, erscheint nicht mehr als Instrument der programmierenden Menschen, sondern wird zu einer objektiven – über „Künstliche Intelligenz“ verfügenden – Bestimmungsgröße. Beherzte Freiheit wehrt sich nicht nur gegen den staatlichen Befehl, sondern auch gegen das staatlich aufgedrängte Motiv und die Herabwürdigung des Menschen zum Steuerungsobjekt. Quelle: „Beherzte Freiheit“ von Paul Kirchhof

Von Hans Klumbies